grillmoebel
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07 Dec 2021
I don't accept any aspect of capitalist society

Schon dass das Konzert stattfindet, sei ein Wunder, erfahre ich vom Ansager sowie von der Band persönlich, und das passt zu meiner Wahrnehmung. Schließlich wurde es zu Zeiten geringerer Infektionszahlen bereits zwei Mal verschoben und auch ich habe in den vegangenen Jahren so oft “verschoben” oder “abgesagt” gelesen, dass ich mit dem Gefühl unterwegs war, es fänden eigentlich überhaupt keine Konzerte statt. Und nun also doch, und ausgerechnet Marc Ribot and Ceramic Dog – was für ein Glück, kann ich, gestern leise Vorausahnung, nun im Rückblick klar und deutlich bestätigt, allen entgegenschmettern, die nicht da waren.
Und dabei dauerte es bemerkenswert lange, bis ich der Darbietung wirklich viel abgewinnen konnte, denn Ches Smith, Marc Ribot und Shahzad Ismaily legten erst einmal 45 Minuten lang einen Soundteppich aus, der zwar sowohl Fähigkeiten als auch musikalische Leidenschaft zeigte, aber in einer Form, dass es wohl für die meisten Leute schwer war, Genuss zu empfinden. Zeitweise fast nur noise, der sich auf- und abbaute wie Emotionen selbst; dazwischen ruhige Obertoncollagen, die plötzlich in Struktur umschlugen, doch immer nur einer der Drei blieb darin, während der Rest fröhlich und düster weiter rasselte und rumpelte.
Ich kann dem Kunstbegriff, den das Trio mit dem ersten Beitrag vermittelt hat, einiges abgewinnen; er war sehr frei, sehr leidenschaftlich, er baute Spannung auf ohne das Versprechen einer Auflösung (in der Hinsicht war er verkörperte menschliche Realität). Doch als empathischer Zuhörer brauchte ich irgendwann das Abgeben dieser Spannung und war sehr froh, als Marc Ribot völlig aus dem Nichts die Performance mit einem Schlag beendete; das Publikum damit zum Veräußern es Angestauten befähigend.
Ich schätze, viel mehr Tracks dieser Art hätte ich nicht durchgehalten, wenn auch im Prinzip für reizvoll befunden oder als Statement wertgeschätzt. Zum Glück schienen Ceramic Dog das zu wissen und wurden (im besten Sinne) freundlicher und strukturierter; betonten aber regelmäßig ihre Avantgarderolle in Brüchen wie einem sensationellen Moog-Solo von Shahzad Ismaily, der, anfangs in diverse Schichten von Kleidung und Mund-Nase-Bedeckungen verpackt war wie eine paranoide Zwiebel, nun nur noch im Overall performte. Sensationell im Wortsinn; denn Moog-Synthesizer erzeugen soviel Druck, dass Sinne aller Couleur über die Ohren hinaus angesprochen werden.
Anschließend ging die Band zu Songs über, was ich überhaupt nicht kommen gesehen hatte. Marc Ribot hat eine etwas schnoddrige Art zu singen und kümmert sich sehr wenig darum, wie es klingt; das mochte ich. Seine Art zu reden war zwar sympathisch, aber auch auf abgeklärt-pubertär, was gleichzeitig wieder nicht zu den Erwartungen passte, die man 67-jährigen gegenüber so hat und mich dadurch versöhnte.
Manche Songs waren stinknormale Popsongs, die nur durch Ribots – man kann es nicht anders nennen – wahnsinnige Soli gebrochen wurden; andere waren groß angelegte Kunstwerke, die sich nur als Songs ausgaben, darunter wütende Tiraden, kämpferische Widerstandslieder und eine Hommage an die Toten, deren kompromisslose Traurigkeit in einer der brutalsten Versionen dessen, was allgemein unter „Blues“ läuft, vollständig zur Geltung kam.
Es hat Spaß gemacht, diesen 3 Leuten dabei zuzusehen, wie sie sich ihrer Musik völlig hingeben, aber vor allem hatte das Publikum dadurch die Chance, sich mithinzugeben und ein Teil davon zu werden. So steigerte sich die Stimmung gegen Ende hin so sehr, dass das Trio noch zweimal auf die Bühne zurückgepfiffen wurde.
War das nun Jazz? Ich wüsste nicht, wieso diese Bezeichnung hier angebracht sein sollte, es sei denn, „Jazz“ als Sammelbegriff für das, was sich in sonst keine Schublade stecken lassen möchte. M.E. deutlich mehr Punk als Jazz, Kompromisslosigkeit, keinerlei Anschmiegerei. Und mehr Blues als Jazz, rau und aggressiv (again, im besten Sinne) wie die Realität, in der wir alle leben, auch das wussten Ceramic Dog, die keinen Song ohne social commentary im Repertoire hatten. Verstören und empowern gleichzeitig wollte diese Musik, abrechnen und heilen, und das ist ihr gelungen, keine Frage.

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