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25 May 2021
Beim Erstgespräch

Sie kommt, wie mit dem Therapeuten verabredet, gegen 10.25 Uhr in der Praxis an und wird dort freundlich von einer Art Empfangsperson begrüßt:

„Sie sind sicher Frau Berendsen, kommen Sie nur herein zu mir. Herr Flockum wird gleich für Sie bereit sein. Ich nehme an, wir hatten telefoniert?“

„Ganz richtig. Sie haben mir dieses Treffen vermittelt und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür! Mag es auch ihr Job sein; für mich ist das sehr bedeutsam, ein solches Erstgespräch. Und dann auch gleich noch ohne Zeitlimit! Das kannte ich ja vorher garnicht!“

„Was meinen Sie, „ohne Zeitlimit“? Die Erstgespräche dauern 45 Minuten, das ist in unserer Praxis gängige Ebensolche! Da müssen Sie etwas falsch verstanden haben!“

„Nein, ich bin mir dessen sehr sicher. Die Sache ist ganz einfach. Sie haben keine zeitliche Beschränkung erwähnt. Auf ihrer Internetpräsenz habe ich ebenfalls nichts gefunden, und so ging und gehe ich davon aus, dass mir mit Herrn Flockum unbegrenzte Zeit zur Verfügung stehen wird.“

„Wie kommen Sie denn auf sowas? Nein, all unsere Erstgespräche und auch die späteren Sitzungen dauern 45 oder höchstens 90 Minuten; alles andere wäre ja geradezu absurd. Herr Flockum ist nun bereit; am Besten gehen sie gleich hinein, dann bleiben Ihnen wenigstens Ihre 45 Minuten in Gänze!“

„Ich werde nichts dergleichen tun, solange Sie mir nicht die mit mir verabredete Zeit gewähren! Sie können mir nicht zuerst unbegrenzte Redezeit vermitteln und dann plötzlich einen Rückzieher machen, sobald ich dann tatsächlich da bin, o nein!“

„Hören Sie, ich habe das nicht vermittelt und nicht verabredet! Nur weil ich Sie nicht explizit auf die 45 Minuten-Begrenzung hingewiesen habe, heißt das nicht, dass Sie da drin bleiben können, solange Sie wollen! Wie stellen Sie sich das überhaupt vor?“

„Das ist nicht der Punkt. Wenn ich nicht von einer zeitlichen Beschränkung höre, muss ich doch davon ausgehen, dass es keine gibt. Herr Flockum und ich werden damit schon umzugehen wissen; wenn es ihm nicht passt, sollte er sichergehen, dass solcherlei nicht versprochen, verabredet oder meinetwegen auch nur impliziert wird.“

„Ich muss doch nicht jeder Patientin extra sagen, dass sie nicht davon ausgehen kann, ohne Zeitlimit Erstgespräche zu führen! Das gehört doch zum gesunden Menschenverstand! Sie können doch nicht ernsthaft diese Meinung die ganze Zeit vertreten!“

„Das kann ich sehr wohl, weil sie begründet ist. Nichts, was Sie mir am Telefon sagten, spricht gegen diese Annahme. Und um ehrlich zu sein, Sie sollten Ihre Argumente etwas besser auswählen. Der „gesunde Menschenverstand“ würde vor Gericht ebensowenig Bestand haben wie, dass eine Meinung deshalb problematisch sei, da man sie doch nicht ernsthaft vertreten könne.“

„Wir sind hier doch nicht vor Gericht! Und ich muss als Empfangsperson in der Praxis doch nicht jederzeit so sprechen, dass es vor Gericht Bestand hätte!“

„Vielleicht nicht jederzeit, aber auf jeden Fall, wenn Sie mit mir sprechen. Denn ich bin, wie jeder weiß und auch Sie wussten, Frau Berendsen!“


Frau Berendsen betritt den Therapieraum in der Annahme, ihn möglicherweise nie mehr zu verlassen.

Herr Flockum is very intrigued.

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