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04 Feb 2021
Gedanken zu Bob Dylans Rolle in der Popkultur

Als Musiknerdperson ist man ja geradezu dazu angehalten, sich dazu zu äußern, ob Bob Dylan dieses oder jenes erfunden hat, und genau deshalb werde ich dieser Pflicht nun nachkommen, indem ich mir eine mehr als passende autobiografische Szene vor Augen rufe, eine Diskussion mit diversen Wissens- und Erfahrungshierarchien, wobei Hierarchien da unter Umständen kein geeigneter Begriff ist, denn beim Zugang zu Musik gibt es zwar auch Wissen, aber auch stets einen nicht unerheblichen Anteil von subjektiver Wahrnehmung, die die jeweils Wahrnehmenden gerne mit Fakten verwechseln. So auch der Bob Dylan-Fan, der mir zu einem Zeitpunkt in meinem Teenageralter, da ich weder Bob Dylan kannte noch irgendeinen Zugang zu Popmusik außerhalb der Hardrock- und Heavy Metal-Blase hatte, um die Ohren schlug, Bob Dylan habe den Rock’n’Roll erfunden.
Bob Dylan war damals für mich ein alter Hippie, der von Blumen sang und Rock’n’Roll war damals für mich das, was die skandinavischen Bands machten. Man könnte nun behaupten, ich habe nicht viel gewusst über Popmusik, doch treffender wäre, dass mein Bild ein noch recht eng gestecktes war. Wissen trifft es nicht, denn man kann auch innerhalb einer Blase rumnerden und sich mit Wissen übertrumpfen (manchmal denke ich, dass Faktenwissen nur dazu da ist, Leidenschaften zu quantifizieren und mit Konkurrenz zu versehen). Ich hatte wie alle Teenager nur rudimentäre Vorstellungen von der Welt und der Musikgeschichte. Mein Gegenüber hatte bereits etwas mehr kennengelernt und war dadurch dazu verleitet worden, sich eine Aussage dazu zu legitimieren, wer den Rock’n’Roll erfunden hat.
Nun kann man vielleicht nicht herausfinden, wer den Rock’n’Roll erfunden hat, aber man kann im Laufe der Beschäftigung mit Popkultur bemerken, dass es große Bedürfnisse gibt, solcherlei vermeintlich objektive Aussagen zu treffen. Schwierig sind alleine schon die Begriffe. Was ist der Rock’n’Roll? Man frage 3 verschiedene Expert_innen und sie geben 3 unterschiedliche Antworten. Lemmy Kilmister sagt Little Richard, Kim McAuliffe sagt die Rolling Stones, irgendjemand sagt bestimmt auch noch Elvis und ich sage Lemmy Kilmister. Der wiederum ist für Kim McAuliffe Punk und für Metallica Metal. Tja.
Und was für Bob Dylan Rock’n’Roll ist, weiß eh kein Mensch. Aber zurück zu den Begriffen. „Erfinden“ ist hier auch etwas schwierig. Wir sprechen auch nicht davon, dass Corona-impfstoffe „erfunden“ werden. Mittlerweile gibt es genug Leute, dass immer mehrere dieselbe Idee haben oder mindestens eine ähnliche und wenn man in Musik etwas „erfinden“ könnte, hätte ich schon einige Riffs und Akkordfolgen „erfunden“ (mit denen nur leider bereits andere Menschen sehr berühmt geworden sind).
Es gibt also eben sowohl eine Historie des Bereiches, in dem man etwas kreiert, als auch eine Gleichzeitigkeit, und beide machen es schwierig, von „Erfinden“ zu sprechen. Dazu kommt, dass wir natürlich keine alles abdeckende Kenntnis darüber haben, wer wann was im Keller auf der Gitarre klimpert. Vielleicht hat eine Sandmalerin aus Mexiko den Rock’n’Roll erfunden. Wissen wir es?
Diese also immer und überall nur ausschnitthafte Historie der Popkultur, von der gerne so getan wird, als gelte sie, habe ich mittlerweile mehr durchdrungen als zum Zeitpunkt jener beschriebenen Szene, und so habe ich eine Ahnung davon, was mein Gegenüber meinte mit seiner Aussage, Bob Dylan habe den Rock’n’Roll erfunden. Die Wahrheit dieses Satzes liegt in dem Moment, als Bob Dylan damit begann, elektrifiziert und mit Band zu spielen. Dazwischen liegen, wenn man es so hören will, Welten. Der eigentliche Inhalt der Aussage war somit eher: „Bob Dylan hat damit etwas geschaffen, was in vielerlei Hinsicht ein neues Erlebnis war“.
Besser und kraftvoller klingt natürlich die als Fakt vorgetragene Behauptung, BD (ich kürze jetzt ab, aus Faulheit), habe den R’n’R (told you so) erfunden. Über den Inhalt, der nicht genannt wird, gibt es auch eine Botschaft, die nicht genannt wird, und die lautet: „Ich habe Zugang zu einer Wahrheit, die dir unbekannt ist“. Ich möchte diese Botschaft nicht übermäßig aufladen, aber doch ist sie gefährlich, wie man eigentlich wissen könnte. Doch die popkulturellen Debatten triefen förmlich von solchen Äußerungen, von Wahrheiten, die keine sein können, weil Kunst nicht objektiv eingeordnet werden kann, auch nicht die Geschichtsschreibung darüber.
Bob Dylan hat also nichts erfunden, nicht die Musik, nicht absurde Texte, nicht den Rock’n’Roll; objektiv lässt sich „leider“ nur festhalten, dass Bob Dylan alle diese Dinge auf eine Weise gemacht hat, dass viele Leute sie gut fanden. Ende.
Die Lahmhaftigkeit des Objektiven mag die Grundlage sein für den Drang, dramatische Scheinwahrheiten zu verkünden. Ich plädiere daher dafür, das Objektive hinter sich zu lassen und genau das Gegenteil zu tun, nämlich zu sagen, was Bob Dylan oder seine Musik oder der R’n’R der mexikanischen Sandmalerin für mich ist und bedeutet. Oft reicht es einfach, aus der Allaussage eine individuelle Meinung zu machen, die sich wörtlich kaum unterscheiden müssen. Also, Freund BD-Fan, sage ich nun in Retrospektive, schön, dass BD das für dich bedeutet.
Hat BD eigentlich auch das Nobelpreisgeld bekommen? Ich finde voll ok, das mit dem Nobelpreis, aber ich finde, man sollte BD nicht noch mehr Geld geben. Wozu? Ab einer gewissen Reichweite fliegt den Eliten der Popkultur Marx gemäß ohnehin alles nur immer mehr zu. Aber dazu ein andermal mehr.





P.S. Hört man sich Songs wie „Like a Rolling Stone“ oder „Visions of Johanna“ an, weiß man, dass BD auch den Punk, und hört man sich Songs wie „It`s allright, Ma“ oder „Subterranean Homesick Blues“ an, weiß man, dass BD auch den Rap erfunden hat. Das stimmt jetzt aber wirklich (zahlreiche weitere Belege vorhanden, bitte nachhören!). Und wahrscheinlich auch den Blues, den Cajun und Sea Shantys. Hat einfach viel gemacht, der BD.

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