grillmoebel
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02 Feb 2021
Die Alpakas geben sich Mühe

X kam da wie immer nicht mehr mit. Es war aber auch hart, an einem Ort mit Jahreszeiten und dergleichen zu leben, dachte X betroffen. Immer wenn Sommer war, erinnerte sich X nämlich nicht mehr daran, wie es sich im Winter anfühlte, also tatsächlich anfühlte, denn natürlich waren X die Fakten bewusst, etwa dass es nötig war, mehr Kleidung zu tragen als zu anderen Jahreszeiten, und dass es nass und kalt war und manchmal Schnee geben würde, also eigentlich, denn auch das wurde mittlerweile torpediert von den Wirren des, als habe es sich der ganzen bekloppten Welt anpassen wollen, postmodern gewordenen Wetters und Klimas, doch auch wenn der Winter heutzutage zur Hysterie neigte, dachte X, war die Jahreszeit doch noch anders als die restlichen, an die sich X auch nur eben erinnerte, wenn sich noch nicht eine weitere Jahreszeit zwischen jene und den Moment der Erinnerung geschoben hatte, so war das normal bei X, also sich im Sommer nicht zu erinnern, wie sich Winter anfühlte, und im Winter nicht, wie sich Sommer anfühlte. X konnte noch so sehr das innere Auge oder andere Fantasiekonzepte zurateziehen.
Es müsse wohl an X‘ nicht besonders ausgeprägtem Fernreisetrieb liegen, schoss es X nun durch den Kopf, dass dem so war, denn wer immer wieder hier- und dorthin flog, wo das Wetter anders, ja gerade weil das Wetter dort anders war, wer also die gnadenlose Abfolge der Jahreszeiten geradezu durchbrach, Sommerurlaub im Winter, Winterurlaub im Frühling, Herbsturlaub im Herbst und all das, musste, so folgerte X, an dieser Stelle doch souveräner unterwegs sein als X, musste doch allzeit parat haben, wie sich was anfühlte. Nun reiste auch X fern, in X‘ Wahrnehmung sogar andauernd, aber es war X nicht entgangen, dass der Durchschnitt, wie es so schön hieß, obwohl Menschen damit gemeint waren, erheblich häufiger und intensiver in der sprichwörtlichen Weltgeschichte unterwegs war.
Wobei, schlich sich bei X eine gewisse Schadenfreude ein, ebenjener Durchschnitt seit einiger Zeit auf Xens Niveau stagnierte, und das auch noch staatlich verordnet. Ob nun auch den anderen Leuten die Fähigkeit zu entgleiten drohte, die verschiedenen Jahreszeiten im Gefühl zu behalten? X fragte sich ohnehin, ob dies möglicherweise ein für X typisches, ja idiosynkratisches Phänomen sein konnte, aber, das wusste X, bei 7,x Milliarden Menschen konnte X sich darauf verlassen, dass es viele andere mit ähnlichen Befindlichkeiten geben würde. Doch war das nun Leidensdruck? Auch wenn X nicht mehr mit kam und es hart war (s.o.), musste die ganze Angelegenheit ja nicht unbedingt ein Problem sein; X hatte doch schon öfter erlebt, wie ein Ding beginnt zu schillern, sobald eine andere Perspektive eingenommen wird, und genauso könnte das anfänglich beklagte Sichnichterinnern seitens X‘ doch auch ein Geschenk sein, durch das X der schauerlich dröge Effekt der Gewöhnung erspart bliebe. Doch, X bebte vor Freude über diese Erkenntnis, so war es, im Herbst sich an Frühlingsgefühle und im Frühling an Herbstmelancholie sich nicht zu erinnern, das war garantierte, im Jahreskreis festgesteckte Lebendigkeit, also das Gegenteil von allem, was Menschen den Naturgesetzen im Jahreskreis hinzugefügt hatten an Grauenhaftem, vor allem Feste, Sinnbilder der Erstarrung, die immerzu Gleiches produzieren sollten, kein Wunder, dass sie Feste hießen, dachte X, genauso war es, fest und unveränderlich und tot, echte Feste würden nicht Feste heißen, sondern Lockere, das war völlig offensichtlich für X. Doch wenn auch die Menschen den Jahreskreis nach allen Regeln der Kunst zu verhunzen versucht hatten, nicht so die Natur selbst – nun war X entzückt über jene hysterischen Ausfälle der Jahreszeiten, die sich auch nicht mehr an die Regeln hielten. Immer wieder von Neuem überrascht, verblüfft zu sein, immer wieder Neues überhaupt zu erleben, denn auch wenn X um die Ähnlichkeit zum bereits Erlebten wusste, war es doch Neues, was diese Jahreszeiten, zumindest X selbst mit jener beschriebenen Eigenheit, brachten. Und damit, so beendete X den Gedankengang in plötzlichem Zynismus, also jedes Jahr mit Neuem zu überraschen, würden Frühling, Sommer, Herbst und Winter, falls es überhaupt 4 Jahreszeiten blieben und man nicht zu einem sinnvolleren neuen Modell übergehen würde, in welchem sie zu zwei Riesenphasen verschmelzen oder sich in viele kleine Phänomene ausdifferenzieren würden, damit würden sie wohl so schnell nicht aufhören.
Es sei denn, auch Extremwetterlagen und Naturkatastrophen nutzten sich mit der Zeit ab.
Abwarten, dachte X.

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