grillmoebel
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12 Jan 2021
Waiting for You

Ich möchte nun (= dieses Jahr) einige Alben der populären Musik vorstellen, die entweder meiner Meinung nach zu wenig Beachtung erhalten, eine Besonderheit in ihrem jeweiligen Kontext darstellen oder meiner Meinung nach zu Unrecht abgewertet werden. Eine Mischung aus ersterer und letzterer Kategorie hatten 1993 die Pogues produziert, nachdem Shane MacGowan ausgestiegen war oder worden war, genau wissen wir es nicht. Man findet es heute, sofern man nicht Restbestände alter Tonträger aufkauft, auf Spotify oder Youtube unter „Waiting for Herb“ und sollte es sich da einmal anhören. Der Frage, ob die Band weitermachen darf, wenn die Frontsau weg ist, die alle geil fanden, kann man sich auf mehreren Wegen nähern. Die schnellste Antwort besteht darin, eine solche Entscheidung verdammt nochmal der Band selbst zu überlassen. Fans sind m.E. oft nicht bereit, mit Bands mitzuwachsen bzw ihren eigenen Bezug zum Gegenstand ihres Fantums zu reflektieren. Was spricht mich an dieser Musik ursprünglich an? Wie entwickelt sich das weiter, wenn sich die Musik verändert? Kommen neue Dinge dazu, die mich ansprechen? Geht es um Klänge, Gefühle oder Lyrics? Zieht mich die Breite des ganzen musikalischen Werks an oder gibt es nur eine punktuelle Überschneidung?
All das spielt eine Rolle dabei, ob man mit der nächsten Veröffentlichung mitwachsen kann/möchte oder nicht. Wenn nun mein einziger Zugang zu den Pogues Shane MacGowans Stimme ist – fair enough, dann verabschiede ich mich eben nach „Hell‘s ditch“. Das ist aber dann auch irgendwie mein Problem, nicht das der Band.
Ich habe schon einmal darauf hingewiesen, dass Shane MacGowans Stimme mit jeder Veröffentlichung betrunkener klingt, aber das ist nicht die einzige Entwicklung, die bei einer Betrachtung des Gesamtwerks auffällt. Es nehmen überdies die Einflüsse außerhalb des Celtic Folk-Spektrums zu und die Leute in der Band tragen mehr und mehr Songs zu den Alben bei, die sie oft auch singen. Spätestens beim Vorgängeralbum von „Waiting for Herb“ hat sich die Rolle von MacGowan erheblich reduziert, was verschiedenen Sachverhalten geschuldet sein mag. Es war jedenfalls kein plötzlicher Bruch, sondern einer mit Ankündigung, und die Band hat spätestens seit „Peace and Love“ alles dafür getan, Fans die Möglichkeit des Mitwachsens zu geben.
Vergleicht man zB mit Motörhead, einer weiteren Band mit einer dominanten Frontperson, so hätte es in diesem Kontext deutlich weniger Sinn ergeben, die Band weiterzuführen; Lemmy war gleichbleibend dominant bis zum Ende und man hätte ihn tatsächlich ersetzen müssen, was nicht möglich ist. Shane MacGowan nun musste nicht ersetzt werden; es sangen und schrieben schon länger mehrere Bandmitglieder und nun wurden es noch mehrerere. Kein Grund zur Panik, liebe Fans.
Die Pogues durften also selbstverständlich weitermachen, wer hätte sie auch daran gehindert. Ich nehme jedenfalls an, dass wegen all dieser Verwicklungen „Waiting for Herb“ oft nicht mitgedacht wird, wenn es um das musikalische Werk der Pogues geht. Ich bin diesem Vorurteil selbst lange auf den Leim gegangen, aber freue mich nun, dieses Album über 25 Jahre später entdecken zu können.
Die Pogues schaffen es, den „Pogues-Effekt“ (Grillmöbel) beizubehalten, also die Tatsache, dass man immer sofort am Bandsound erkennt, dass die Pogues beteiligt sind (vgl zB hier). Eine Menge klasse Songwriting findet sich auf der Platte, von „Big City“ über „Haunting“ bis zu „Girl from the Wadi Hammamat“ und für mich ist es eine besondere Perle, dass tatsächlich alle mindestens einen Song beigesteuert haben. Welche 7-köpfige Band kann das behaupten? Und bei welcher taugen die dann auch noch alle was?
Es fehlt nicht an Pop („Tuesday Morning“), nicht an traditionellen Klängen („Haunting“, „Modern World“), nicht an MacGowanartigen Songs („Paris St Germaine“, „Small Hours“) und nicht an Quatsch („Pachinko“). „My Baby‘s Gone“ hat eine berührende Hintergrundgeschichte, „Smell of Petroleum“ macht einfach nur Spaß. „Drunken Boat“ verblüfft, „Once Upon a Time“ versöhnt. Und eine der treffendsten politischen Textzeilen, die je geschrieben wurden, findet sich in „Sitting on top of the world“ – leaders talk rubbish, more people die.
Mehr muss man nicht wissen. Listen.

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