grillmoebel
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22 Jun 2020
old white non-binary

Wer in der deutschbürgerlichen Kleinfamilie aufwächst, weiß, was Pauschalurteile sind. Wahlweise ist etwas so oder die sind so, auf alle Fälle steht fest, dass das beschriebene Urteil für alle Fälle feststeht. Wer in der deutschbürgerlichen Kleinfamilie aufwächst, nun aber aus dem einen oder anderen Grund sich die Fähigkeit bewahrt hat, die Realität wahrzunehmen, wird alsbald feststellen müssen, dass es mit den Pauschalurteilen nicht allzuweit her ist. Dann trifft man plötzlich welche, die garnicht so sind und vielleicht sogar welche, die sehr wohl so sind, aber dort, wo eigentlich alle nicht so sind. Zu abstrakt? Ersetze „die“ durch „Arbeitslose“ und „so“ durch „faul“, wenn’s sein muss.
Was nun schließt man aus so einer Erfahrung? Die Vielfalt menschlicher Ausprägungen ist ja für die an kategorische Urteile gewohnte Person zunächst nur eines: Überforderung. Vielleicht Bedrohung. Eine beliebte Reaktion besteht darin, sich in Verblendung und Wahn zu flüchten. Funktioniert oft! Mit genug Fantasie lässt sich die äußere Realität an die innere anpassen. Vielfalt ausblenden, mit Gedanken, Worten, Taten und Gesetzen. Bis jetzt zumindest brauchte sich, wer diesen Weg wählte, in Deutschland keine Sorgen zu machen; Gleichgeunsinnte waren stets schnell und in Massen vorhanden.
Jetzt bestehen aber diese ganzen Menschen, die man doch eigentlich so schön auszublenden gewohnt war, so impertinent auf ihren Rechten, dass schon alle mögliche Vielfalt auf die politische Ebene übertragen wurde; nicht nur müssen jetzt Handwerkerbetriebe umständlich werben: „Solider Handwerker (m / w / d) gesucht!“, nein, jetzt wollen auch noch Minderheiten wie Frauen alles mögliche, zB auch mal ein Arschloch-CEO sein. Nicht nur darf man sich plötzlich gegen die Biologie (!) entscheiden, dann doch lieber Frau oder Mann zu sein anstatt Frau oder Mann (und als wäre das nicht genug, wollen Leute auch noch keins von Beiden sein), nein, jetzt soll auch noch der Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz gestrichen werden! Obwohl der doch schon so lange da drin steht!
So in etwa muss man sich das vorstellen, was in den Köpfen derer los ist, die so lange mit ihren pauschalen Kategorisierungen gut durchs Leben gekommen sind und die sich nun bedroht fühlen deren längst vorhandene paranoide Systeme nun durch irgendwelche Kinkerlitzchen, die sie quasi nicht betreffen, in Daueralarmzustand versetzt werden.
Die Medien sind gut dabei und melden zB ALLE eine „geringe Nachfrage nach Geschlechtseintrag divers“ - höre: Hat sich nicht gelohnt! Exklusion ist meist billiger als Inklusion, daher auch nicht sonderlich beliebt im entfesselten Turbokapitalismus. Und zur Streichung von „Rasse“ bedarf es nun wirklich, wirklich keiner Debatte. Mach halt endlich, dann können wir über was anderes reden, boah.
Zurück zum kategorischen Urteil. Am Scheideweg besteht natürlich auch die Option, die wahrgenommene Vielfalt nicht abzuspalten, sondern zu integrieren. Vielleicht zunächst der unbequemere Weg. Bequemer wird das Integrieren über eine – sehr ironische – Verschiebung des Pauschalurteils auf Pauschalurteile selbst, à la „Alle Pauschalaussagen sind falsch.“
Die Folgerung bietet sich an, dass die einzige wahre Pauschalaussage die ist, dass alle Pauschalaussagen falsch sind. Wodurch diese aber nicht mehr stimmt, also nicht mehr wahr ist, und damit wieder stimmt, dass alle Pauschalaussagen falsch sind, was damit aber wiederum nicht mehr wahr ist. Es entsteht also ein lustiges philosophisches Paradox, aber davon abgesehen funktioniert es. Ich denke, weil der Satz „Alle Pauschalaussagen sind falsch“ der erlebten vielfältigen Realität einfach eher gerecht wird als das die sind so und das ist so. Mit dem das ist so ist es nämlich auch so eine Sache. Da hört man hundertmal, dass das so ist und plötzlich stellt man fest, dass es
doch nicht so ist
auch anders sein kann
mal so, mal so ist
für die eine Person so ist und für die andere so.
Eieiei. Erste Anklänge davon, wie schwierig dieser Integrationsvorgang werden kann. Für Leute außerhalb der deutschbürgerlichen Kleinfamilie, in Umständen gelebter und geschätzter Vielfalt wohl auch dennoch herausfordernd, ist es für die Opfer postnationalsozialistischer Nationalideologie eine ganz andere Nummer.
Doch über den Umweg des kategorischen Abwertens kategorischer Urteile kann es funktionieren. Vielfalt heißt ja nicht nur Sodom, Gomorrha und Babel, sondern auch viele Möglichkeiten für das Selbstbild, das eigene Menschsein. All diejenigen, die schon einmal aus einem Denk- oder Lebenssystem entkommen sind, wissen, dass Übersichtlichkeit, Klarheit und Sicherheit Gefängnisse sein können. Dass im Anerkennen der Vielfalt die Befähigung zur eigenen Freiheit enthalten ist.
So ist das.
Und dennoch ertappe ich mich immer wieder beim Badputzen dabei, dass ich mich über den kompromisslosen Pauschalcharakter meines Allesreinigers heimlich freue.
„Für alle Oberflächen.“
Ich atme einmal durch. Geil.

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