grillmoebel
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29 Apr 2020
Fluchen - ein Segen.

„Eine gute Zeit, um arbeitslos zu sein!“, dachte X mal wieder, nachdem X ausgeschlafen und in Ruhe opulent gefrühstückt hatte, während sich um X‘ Einzelexistenz herum die systemrelevanten Berufe per Dekret kaputtzuschuften hatten. X beschloss, aus Solidarität Coronasport zu treiben (eine monothematische Ära hat es so an sich, dass die eigentlichen Kategorien eine totale Transformation hin zum Thema erfahren, daher Coronasport), auf dass X anschließend eine Ahnung der sekündlich zunehmenden Dauererschöpfung jener „Helden“ (Medien) zuteil werden konnte. Nutzt ungefähr genau so viel wie Balkon-Applaus, dachte X, ohnehin der Meinung, dass diese ganze Balkonapplaudiergeschichte vor Diskriminierung gegenüber Menschen ohne Balkon (zum Beispiel! X) nur so triefte.
Wer schuftet, hat immerhin keine Zeit zum Grübeln, so X weiter, denn X schlug sich seit Wochen mit den einen oder anderen anstrengenden emotionalen Prozessen herum, die nur Arbeitslose betreffen (wegen Zeit). Um das Innere mal wieder zu veräußern, also Coronasport. X nahm die Bahn zum nächsten Park, es waren nur wenige Minuten Fahrt. An der Tür ein Schild: „Türen können automatisch öffnen.“
Kurz vorm Stop eine Durchsage: „Achtung, Türen können automatisch öffnen.“
Die Bahn hielt an. X wartete. Es passierte — nichts. Am allerwenigsten passierte an den Türen. X, längst im Klaren darüber, dass da nichts mehr kommen würde, überwand sich, mit der (nackten) Hand den Knopf zu betätigen, wozu natürlich von den zahlreichen Leuten, die in den Zug hinein wollten, niemand sich in der Lage sah. Das kannte X schon. Eine schöne Botschaft, das: „Lieber du als ich.“
Von der üblichen Skrupellosigkeit unbeeindruckt, machte X sich an den in Aussicht gestellten Coronasport. Es lief gut, das Joggen. Die Zeit rannte und X rannte mit. Der Anblick der mächtigen Bäume, für die das Coronavirus übrigens völlig ungefährlich ist – zum Glück! (X) – und die irgendwie verheißungsvolle Abendsonne führten zu einer gewissen Erleichterung in X‘ Innerem. Die Menschen hingen in Gruppen im Park herum, das gefiel X ebenfalls; soll die Polizei doch kommen, dachte X, und siehmalan! da fuhr schon eine Wanne auf dem Gras herum. X war empört. Die bizarren Parkläufer der letzten Wochen waren X da lieber, die zwar albern kumpelhaft, aber auch vorsichtig mit den Leuten gesprochen hatten. Überhaupt erstaunte es X, wie offensichtlich es dann doch für alle zu sein schien, dass die Kontaktsperren und sonstigen Auflagen im Rahmen der Viruskrise ein Thema sind, das sensibel begangen werden möchte. Dann erinnerte sich X daran, wie am Tag zuvor irgendwelche wildgewordenen Sicherheitsfatzkes einen offensichtlich neben sich stehenden Menschen wegen einer Lappalie völlig unverhältnismäßig zusammengeschrien und bedroht hatten. Das war wohl deren Coronasport. Das Innere veräußern geht auch mit nach unten treten, dachte X und wurde nun doch wieder wütend und angespannt. Die Menge an coronaspaziergehenden Familien, deren Performance X geradezu anschrie, dass alles in Ordnung sei, verschärfte das Gefühl eher noch.
Doch genau im richtigen Moment hörte X ein Wummern, wie es nur ein übertriebener Sportwagen erzeugen kann, und wusste, alles wird gut. Jetzt konnte X die Fahrerin respektive den Fahrer beschimpfen, eine weitere legitime Art des Veräußerns des Inneren.
„Verpiss dich, du scheiß Arschloch“, begann X sanft und überlegte gleichzeitig schon an den nächsten Kraftausdrücken. „Ekelhafter Fatzke, mach dich ab, niemand braucht dich, du abartiger Vollidiot.“ X war nicht zufrieden mit der kreativen Leistung der Schimpfkanonade und entschied, dereinst das urban dictionary genauer zu studieren oder sowas. „Ja genau, mach die Fliege, du ekelhafter Wichser mit deiner Scheißkarre“, schloss X, als der Sportwagen (ein Porsche übrigens) um die Ecke gebogen war und wie immer funktionierte das alles ganz wunderbar.
Weg war die Wut, die Straße wurde von Wald und Wasser abgelöst; die Abendsonne war abendsonniger denn je. X musste an ein Gespräch am Vortag denken, wo eine Freundin von X erzählt hatte, dass sie schon diverse Bücher abgebrochen hatte ob der in ihnen enthaltenen Kraftausdrücke. X hatte schon während der Erzählung in sich hineinlächeln müssen, Erinnerungen, die der hier beschriebenen Situation sehr ähnlich gewesen waren, vor dem inneren Auge rekapitulierend. Nach einer sanften Replik seitens X und einer kleinen Diskussion um die Sinnhaftigkeit des Einsatzes von Schimpfwörtern hatte jene Freundin das Ganze gut zusammengefasst: „Na zum Glück sind die Menschen ja unterschiedlich.“
Ja, zum Glück, dachte X, zum Glück fahren die einen Porsche und die andern nicht, sonst könnten die, die nicht Porsche fahren, überhaupt nicht berechtigterweise ihren kompletten Lebenshass auf jene kanalisieren, die Porsche fahren. Und immer wissen, dass es nur die Richtigen treffen kann. Ja, ein Glück, dass die Menschen so unterschiedlich sind.
X rannte, nun ganz eins mit der X umgebenden Natur, der sich langsam verkriechenden Sonne in Schleifen hinterher, bis es nicht mehr möglich war, und bog dann in die Seitenstraße ein, die X nach Hause führen sollte, da entdeckte X plötzlich rechterhand eine Märchenwiese voller blühender Kirschbäume. X fühlte sich der Person sehr verbunden, die diese Bäume extra für diesen Moment in X‘ Leben dorthin gepflanzt hatte vor vielen Jahrzehnten. X nahm den Pfad zwischen ihnen hindurch, störte noch freudig ein paar Verliebte o.ä., und gelangte dann zur Zielgerade, zu deren Beginn jemand mit Farbe auf die Straße geschrieben hatte: „Meine Göttin hat den längsten!“
Damit war X‘ens innerer Frieden endgültig wiederhergestellt; zuerst die Natur, jetzt das menschliche Schaffen in all seiner Perfektion, X spurtete gen Zuhause und alles blieb perfekt, und selbst als eine unsensible Gruppe entgegenkommender Fahrräder kurz den Versuch machte, die Stimmung zu trüben, sandte das Schicksal einen sehr lauten Motorradfahrer an X vorbei, an dem X sich noch einmal rechtmäßig abreagieren durfte.
Diese Seelenruhe brauchte X dringend. Noch einmal sich gut fühlen, noch einmal gut essen, noch einmal Coronakunst produzieren, bevor er wieder weiter geht, der Kampf der Systemirrelevanten gegen die monothematische Ära, in die es uns plötzlich alle (ja, alle) verschlagen hat, ohne zu fragen.

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