grillmoebel
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02 Apr 2018
Versuch über das Wetter

Der Text startet mit einer pikanten These. Sie ist: Der wahre Luxus der funktionierenden modernen Demokratie besteht darin, dass man sich über das Wetter unterhält.
Beziehungsweise unterhalten kann - denn nur wo alles perfekt läuft und niemand Sorgen hat, wo es keine Armut, aber dafür Glück und Zufriedenheit für alle gibt, nur da leben Menschen so privilegiert, dass sie es sich leisten können, über das Wetter zu reden. Zum Verhältnis von Ursache und Wirkung, also ob tatsächlich die Lage so gut ist, dass sie das Privileg erzeugt oder ob die besessene Ausübung des Privilegs beweisen soll, dass die Lage so gut ist, mögen sich die klugen Köpfe unseres schönen Landes ihre (klugen) Köpfe zerbrechen. Denn hier geht es einzig und allein ums Wetter.
Doch um noch einmal darauf zurückzukommen: Dass ich diesen Text überhaupt schreiben kann, bedeutet doch, dass es mir gut geht, dass ich mich in einem Zustand der Stabilität, Sicherheit und daher natürlich auch Zufriedenheit befinde. Deswegen liest man in den News aus Syrien und der Türkei nichts übers Wetter. Weil da alles drunter und drüber geht! Niemand dort würde es wagen, so etwas profanes wie das Wetter zu thematisieren! Man liest höchstens einmal hier oder da: „Das Wetter begünstigte die türkische Luftoffensive“ oder „Wegen anhaltender Trockenheit sind auf der Flucht viele vom Verdursten bedroht“ - aber das war es dann auch. Die Wetter-Topics sind hier nur Beilage zum Hauptgericht zur Hauptberichterstattung.
An Kriegsschauplätzen möchte man nicht darüber reden, ob der Sommer zu kurz war oder die gefühlten Temperaturen im März sich im statistischen Mittel befinden. Noch nicht einmal über Winterdepression. Und das liegt eben daran, dass „der wahre Luxus der funktionierenden modernen Demokratie […] darin [besteht], dass man sich über das Wetter unterhält“¹.
Und dort, also in der funktionierenden modernen Demokratie, passiert es auch. Überall. Egal ob du dein Smartphone anschaltest, die Zeitung liest, den Wetterbericht anschaust oder im Web nach dem Wetter recherchierst – überall geht es um das Wetter und wie es denn wird. Das ist übrigens ein interessanter Punkt: Beim Wetter scheinen die Leute immerzu im Morgen zu leben. Das muss aufhören, denke ich. Lebe im Jetzt! Auch das Wetter passiert ja schließlich jetzt und eben nicht morgen (außer morgen dann, aber dann ist das ja das neue Jetzt, q.e.d).
Doch natürlich liegen die wahren Gründe für diesen Sachverhalt tiefer. Es geht um nichts weniger als den alten Menschheitstraum der Beherrschung der Natur durch die Technologie und den noch älteren alten Menschheitstraum des Vorhersagens der Zukunft durch die Wissenschaft. Oder anders, geradezu überspitzt, gesagt: Was mich dazu antreibt, wetteronline.de zu besuchen, ist nichts anderes als das Bedürfnis, nicht Mensch, sondern Gott zu sein.
Dass wir als Menschheit noch immer nicht über uns hinausgewachsen bzw. die großen Rätsel zu lösen imstande sind, mag mithin daran liegen, dass wir Wettervorhersagen einfach nicht hinkriegen. Wer kennt es nicht: Man plant einen Ausflug in eine fremde Stadt und trotz größtmöglicher Vorbereitung (Wetter-App) macht das Wetter wieder etwas, was es nicht soll, zB scheint die Sonne, obwohl man sich extra Funktionskleidung gekauft hat, da Regen angesagt war. Die Wissenschaft flüchtet sich hinter ihre Wahrscheinlichkeiten, aber das Wetter, ja, das Wetter legt eine gewisse Tendenz zur Verhöhnung an den Tag - als würde es sich garnicht dafür interessieren, dass es Tag für Tag die Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen zu erfüllen hat. Ja, noch mehr – das Wetter verhält sich fast so, als wollte es seiner immerwährenden Personifizierung garnicht gerecht werden. Als wäre es eine unpersönliche und indifferente Abfolge atmosphärischer Phänomene auf der Basis von Naturgesetzen.
Es ist wirklich kein Wunder, dass der Eindruck ensteht, alle seien immer unzufrieden mit (eigentlich: böse auf) das Wetter. Dazu kommt, dass das Wetter früher anders war – Ein Skandal! Damals galten noch Bauernregeln und an die hat sich das mittlerweile impertinent gewordene Wetter (Blitzeis in Düsseldorf, Touristenmonument Brocken im Harz verzeichnet Tiefsttemperatur von gefühlten -40 Grad Celsius) auch noch gerne gehalten!
Die Klimaerwärmung trägt das ihre dazu bei, doch um die soll es hier nicht gehen, hier geht es schließlich ums Wetter. Um das Wetter, über das man redet, über das man parliert, sich gut unterhält. Dadurch, dass das Wetter an verschiedenen Orten unterschiedlich ist, ergeben sich für Gespräche über weitere Entfernungen Myriaden von zu erörternden Wetterunterschieden. „Heute waren es 10 Grad und wechselhaft?“ - „Nein, bei uns war es eher 8 Grad und nur manchmal wechselhaft! Dazu eine laue Brise!“ - „Nein, mach Sachen!“
So oder so ähnlich kann man sich über das Wetter unterhalten. Muss man aber auch nicht. So können dank des Wetters alle tun und lassen, was sie möchten. Es sei denn, es regnet.
Das Wetter, so muss ich noch abschließend anschließen, ist, wie die medizinische Forschung oder die Herstellung von Youtube-Schleim, natürlich auch ein Milliardengeschäft. Allein die Dunkelziffer an verkauften T-Shirts mit lustigen Aphorismen über das Wetter ist kaum zu ermessen (wie jede andere Dunkelziffer übrigens auch). Dazu kommen die Tantiemen von „ain‘t no sunshine“ und „singing in the rain“, die ganzen Wettshops, wo Wetterwetten abgeschlossen werden können (von wechselhaft bis Sintflut – alles ist möglich, alles hat odds) und natürlich der ganze Tourismus für die Wetterflüchtlinge, die übrigens weitaus angesehener sind als Wirtschaftsflüchtlinge. Das Wetter ist eben immer ein guter Grund, mit dem alle d‘accord gehen können.




¹ Versuch über das Wetter, Grillmöbel 2018

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