20 Nov 2019
Sexspielzeugkunst
Ja, wer unterdrückt, muss rauslassen. Weitere beliebte Orte zum Rauslassen des Unterdrückten: zwischenmenschliche Beziehungen, Supermarktkassen und der Straßenverkehr, wie alle Leser_innen dieses Blogs wissen sollten.*
Vielleicht auch noch woanders: So könnte man auch die wachsende Präsenz des Bedürfnisses nach „schmutzigem Sex“ (was immer das sein mag) als Antwort auf die eigene und natürlich die soziohistorische Reinlichkeitsdressur lesen. Ich schätze, es wird dem nicht ganz gerecht, aber gewiss seinen Anteil haben. Denn warum sollte man an einem bestimmen Punkt plötzlich aufhören, an „Schmutzigem“ Spaß zu haben, was so gut wie alle als Kind praktizieren?
Wenn aber im Matsch spielen und über Kacke reden nur kindlich sein darf, muss man das Bedürfnis danach, wenn man es dann doch irgendwie hat, in einen Bereich transferieren, der definitiv nicht kindlich ist. Da bietet sich** Sex natürlich direkt an. In Wahrheit wird es, wie es natürlich eine kindliche Sexualität gibt, ebenso eine lebenslange Freude am Schmutzigen geben. Man sollte die Hygiene da lassen, wo sie notwendig ist, in Krankenhäusern und Drogenkonsumräumen.
Neben der Freude am Schmutzigen wird auch die Freude am Spiel gerne in den sexuellen Bereich mitgenommen.*** Aber auch in andere Felder, zB Sport oder Kommunikation. Wenn man irgendwelchen StartUp-Witzfiguren glauben mag, wird geradezu alles gamifiziert. Auch hierbei gibt es positive und negative **** Trends. Dass Spielen etwas universell menschliches ist, sollte aber anhand dieser massenweise stattfindenden Übertragung evident sein. Und doch sind Spielplätze zB nicht einfach für alle da und das Erwachsenenspiel ist nicht an sich legitim, sondern muss sich erst durch das Hinzufügen „erwachsener“ Dinge wie Wettbewerb, Konkurrenz, „Sinnhaftigkeit“ und Effizienz selbst legitimieren. Traurig eigentlich.
Interessant ist auch, dass Kinder extrem dazu angehalten werden, sich künstlerisch auszudrücken, was aber in der horrenden Mehrzahl der Fälle in dem Moment aufhört, wo die Kinder als Erwachsene rentabel werden müssen. Kunst ist brotlos*****. Kunst ist aber gleichzeitig brotlos und ebenfalls ein universell menschliches Bedürfnis, und zwar zu konsumieren und zu produzieren. Welcher Mensch würde auf Bücher, Musik, Bilder, Fernsehprogramm und Ästhetik im Straßenbild dauerhaft zu verzichten bereit sein? Natürlich geht es in die Richtung. Dass Bücher, Musik und Fernsehen massen- und profitorientiert werden, dass Ästhetik bei neuen Vorhaben so gut wie keine Rolle spielt. Doch einerseits profitieren wir von einer langen Geschichte, in der das anders war und andererseits bringt die Massenproduktion Phänomene von kulturellen und subkulturellen Nischen, in denen Kunst zwar brotlos ist, aber immerhin wertgeschätzt wird und vom reinen Profit entkoppelt werden kann, wodurch besagter Widerspruch gemildert wird.
Oben anschließend denke ich, dass das Bedürfnis, selbst künstlerisch tätig zu sein, fast komplett in den Konsum verschoben wird. Die Dynamik ist also eine andere als bei den vorherigen Beispielen, aber es existiert ein ähnlicher turning point, das Erwachsenwerden.
Was tun?
*Interessant organisiert haben es die Bull_innen, die sich zwar einerseits im Straßenverkehr ordnungsgemäß an alle Regeln halten müssen, aber gleichzeitig immer wieder in Umstände geraten, unter denen sie legal ebenselbige brechen dürfen, sobald die Sirene angeschaltet ist. Geradezu beneidenswert.
** für Freunde des verkürzten Denkens
*** ich würde übrigens nicht sagen, dass das Problem darin besteht, die Bedürfnisse zu verschieben. Sexualität kann davon sicherlich profitieren. Problematisch ist m.E., dass real existierende Bedürfnisse maskiert und künstlich von der offiziellen Selbstdarstellung getrennt werden.
**** sehr negative
***** und wird es immer bleiben, solange man Gesellschaften so einrichtet, dass Kunst brotlos sein muss