grillmoebel
Analytisches Prosa Nichtprosa Musiknerdtum Kommentare zum Zeitgeschehen wiederkehrende Rubriken Fragmente Meta Blogroll (alt)

16 Jan 2019
Was weiß J-Lo schon vom Leben (4)

Es wäre doch nicht weniger als hervorragend, wenn ein Sachverhalt unter Menschen existierte, der keinen Widerpart in der Realität hat; wenn also regelmäßig und meinetwegen werbewirksam etwas geschähe, was nicht begründbar, nicht fassbar, ja ganz ohne eigene Genealogie wäre.
Nun, Phänomene, die dem nahekommen, finden wir freilich in Ritualen oder Bräuchen der Teilgesellschaften, doch mögen diese auch mithin als absurd wahrgenommen werden, so liegt jener Charakter meist in einem klar zu benennenden Widerspruch verborgen, von wo aus er aber auch rasch zutage geholt werden kann. Man denke an die Abläufe der christlichen Gottesdienste, die lediglich hanebüchen wirken aufgrund ihres inhärenten Anachronismus’, eine Eigenschaft, die sie verlieren, wenn man sie in den richtigen zeitgeschichtlichen Kontext stellt.
Eine zweite Gruppe menschlichen Verhaltens, die dem Anspruch des Gedankenexperiments womöglich noch näher kommt, findet sich in bizarren Traditionen wie dem zentralasiatischen Ziegenkopf-Polo und vielen anderen ethnischen Brauchtümern auf der Welt. Diese Menschen kommen zusammen und kloppen sich um eine tote Ziege, mehr noch, es handelt sich um einen Nationalsport, und die Frage nach dem Grund wirkt deplatziert: Das hohe Maß an Irrsinn verhindert seine eigene Infragestellung.
Ebenso passieren in westlichen Gesellschaften wirre Dinge: Leute treffen sich in Plüsch-Verkleidung zu Massenorgien oder begeben sich völlig ohne Grund in Lebensgefahr, doch all diesen Dingen ist sich wissenschaftlich angenähert worden. Es hat sich in den nicht subsistenzorientierten Lebenswelten ein Recht auf Wahnsinn herauskristallisiert und das ist gut so.
Der Werdegang des Lo-Fi-Songs “Seven Nation Army” ist ebenso etwas rätselhaftes. Folgende Lehre ist zu ziehen: Das Kunstwerk kann jederzeit eine vollkommene Transformation erfahren. Hier ist es nicht wirklich möglich, zu ergründen, was der initiale Gedanke dahinter war. Vielleicht liegt es in der Substanz des Liedes selbst, die im entsprechenden Kontext Basis zur Transformation sein kann. Hier sind wir der oben gestellten Forderung schon sehr nahe. Hier wäre wünschenswert, dass diese Möglichkeit willkürlich ausgenutzt wird. Dass eines Tages festgelegt wird, ein völlig beliebiges Lied sei ab jetzt Nationalhyme oder Kampflied der Soldateska. Je abstruser, desto besser. Und man müsste klarstellen, womöglich durch Repression, dass jener neue Ist-Zustand einer wäre, mit dem nun ein jeder seinen oder eine jede ihren Umgang zu finden habe. Die Komponisten und Interpreten sollten allerdings Kompensation erhalten.
Eine solche Geschichte wäre wenigstens interessant und trüge zur Unterhaltung bei: Von oben verordnete Brüche. Wenn in Nordkorea die Läden der Hauptstadt stets prall gefüllt sind und man gleichzeitig aber nichts davon kaufen darf, weil sich die Gewerbetreibenden lediglich an Kim Il-Sungs Weisung halten, in Nordkorea sollten keine leeren Regale existieren, dann ist das letztlich nichts anderes. Das taugt natürlich nicht zum Vorbild für eine zu gestaltende Zukunft, doch wäre es nicht schön, zum Beispiel jährlich einen Feiertag mit einem ungeheuren Aufwand zu begehen, dessen zahllose Rituale im Grunde nur daraus resultieren, dass sich vor 400 Jahren mal jemand in irgendeiner Situation verhört hat?
So weit ist es schon, das Verlangen nach der Brechung des gesellschaftlichen catatonic state, und jetzt wissen wir, warum Diktaturen solchen Spaß machen. Sie bedienen das innere Kind.

Analytisches Prosa Nichtprosa Musiknerdtum Kommentare zum Zeitgeschehen wiederkehrende Rubriken Fragmente Meta Blogroll (alt)