16 Jan 2017
Neues aus der Provinz
Ich wohne ja bekanntlich nicht in Berlin, sondern im kleinen Dorfe Berlinchen, welches der Hauptstadt allerdings nahe gelegen ist. Das ist auch der Grund dafür, dass hier auf Grillmöbel mithin Berlin-beeinflusste Berichte und Analysen auftreten, nicht etwa, dass ich eigentlich doch in Berlin lebte, das ist nämlich nicht so. Diese Verleumdung möge einfürallemal enden, sofern sie jemals begonnen hat.
Jedenfalls ist Berlinchen seinem Augmentativ nicht so unähnlich, wie man vielleicht zu denken verleitet ist ob der 10000-fach geringeren Einwohner_innenzahl: Es gibt Straßen, Häuser und Menschen, und wo Menschen sind, gibt es auch Probleme: Verdrängung an den Dorfrand, optische Aufwertung durch Soligelder, zuwenig Mietwohnungen, Hundekot auf der Dorfstraße.
Da hilft nur eins: repräsentative Demokratie, und die gibt es natürlich auch in Berlinchen, wo, sogar zeitgleich zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses, eine Wahl oder eher ein Wählchen stattfand. Ein nicht ganz so langes Wahlkämpfchen ging ihr voraus, in dem große Sümmchen für Wahlwerbung ausgegeben wurden, vor allem von den beiden Volksparteien CDU (hier: bürgerliche Mitte für Berlinchen, BM) und SPD (hier auch SPD, was hat die Partei noch außer dem historischen Akronym?) sowie der freien Wählergemeinschaft Berlinchen, deren einziges Mitglied Hilde Müritz in 2 DinA1-Plakate am Ortsein- und -ausgang investiert hatte. Die Plakate bestachen durch ihre simple Gestaltung. Sie zeigten Hilde Müritz vor dem Dorfanger und das Logo der FWGBchen, welches ein Bild von Hilde Müritz vor dem Dorfanger zeigt. Die örtliche CDU/BM ging inhaltlicher vor: „Alles ist gut so, wie es ist. BM wählen.“, dabei obige Missstände offenbar ignorierend, außerdem die Abwandlung „Jeder Wille zur Reform bedeutet Kommunismus (Stalin, Mao, Kim Il-Sung)“. Darauf angesprochen antwortete Kandidätchen Heinz-Manfred Müllermeierschmitt volksnah: „Gemeint sind natürlich nicht alle Reformen, das ist Wahlkampfduktus. Nur die, die etwas verändern.“
Die Rivalin von der SPD, Renate Iskariot, triumphierte mit einem besonderen Sloganchen: „Die SPD heißt seit 1890 SPD. Jetzt ist 2016. Die SPD ist sehr alt und damit ehrwürdig.“
Die örtlichen Medien betrachteten das Wahlkämpfchen als „gewagt ehrlich“ und ich kann ihnen nur Recht geben.
Die Berlinchener Öffentlichkeit war daraufhin tatsächlich politisiert wie selten: Ein großes Banner an der Kirche verkündete in typisch religiös-mystischer Weise „Gott würde BM wählen. Wegen dem C.“ Im Tante-Emma-Laden hingegen stellte man sich geschlossen hinter die AfD, obwohl diese garnicht zur Wahl stand: „Na deswegen heißt det ja Alternative.“, bekannte sich die Besitzerin Gisela „Onkel“ Hermann.
Von den örtlichen Grünen war wenig zu hören, nur 2 einzelne Plakate konnte ich entdecken: „Wir wollen in die Regierung“, lautete ein zentraler Standpunkt, das andere sagte nur: „Wählen Sie uns. Bitte.“
Die örtliche Satirepartei gönnte sich eine verdiente Pause, das offizielle Statement lautete: „Wir können diesen Wahlkampf nicht parodieren. Erst Trump, dann Berlinchen. Keine guten Zeiten für Satire.“
Die Linke entschied, dass sie ohne Wahlkampf wahrscheinlich besser dran wäre. Zu Recht, wie sich zeigte: Ohne die Hetzkampagnen der CDU/BM, die, egal in welche Richtung die Partei sich geneigt hätte, zu erwarten gewesen wären, holten die Linken die Stimmen all der Unentschlossenen, die mit der Ehrlichkeit des Wahlkampfs überfordert waren, und landeten letztlich bei 25% der abgegebenen Stimmchen.
Das amtliche Endergebnis: Linke 25%, Grüne 10%, BM 21%, FDP 8%, FWGBchen 1 Stimme, SPD 17,6%, Andere 17,4% (es gab noch sehr viele andere Parteien). 14% der abgegebenen Stimmen waren ungültig, die Wahlbeteiligung lag bei 50%, also 100 der 200 Wahlbeteiligten Berlinchener_innen.
Damit war aber der Zirkus noch nicht vorbei, nun musste sich zusammengeschlossen werden. Nach zähen und langen Verhandlungen stand das erste rot-rot-grüne (im Berlinchener Volksmund „defekte Ampel“ genannt) Koalitiönchen des Landkreises Ostprignitz-Ruppin seit Kriegsende fest. Aus irgendeinem Grund stellte die SPD das Chefchen der ganzen Aktion und damit begann der Untergang: Bereits 3 Tage nach der Präsentation des Koalitionsverträgchens machte die Linke den Bauarbeiter Anders Hojm zum Beauftragten für Wohn- und Mietfragen, was heftige Reaktionen seitens der Koalitionsparteien nach sich zog, die den Vornamen des designierten Beraters als böses Omen dafür sahen, „dass hier in unserem Berlinchen plötzlich alles anders wird!“
Es folgte eine heftige multimediale Hetzkampagne. Das Gemeindeblatt titelte: „Dieser Vorname kann kein Zufall sein! Eine kritische Analyse von Anders Hojms Vergangenheit und Geburt“; der Lokalsender Berlinchen TV brachte sogar eine Extrasendung über den „Lügenskandal“: „Hojm gesteht im Exklusivinterview, dass er eigentlich anders heißt!“
Es endete, wie es enden musste, ob in Berlin oder Berlinchen: Verwirrt trat Hojm zurück; die Linke, als einzige Partei nicht komplett dem Aberglauben erlegen, sah in der ganzen Geschichte einen Vertrauensbruch; letztlich hatten die überzeugten Ungültigen aus Onkel Hermanns Tante-Emma-Laden rechtbehalten: Die Koalition zerbrach, bevor sie überhaupt irgendein Verordnungchen hatte erlassen können.
Wie es in Berlinchen weitergeht, erfahren Sie wohl am Ehesten, indem Sie mal hinfahren und sich einen Eindruck machen, denn dieser Text ist frei erfunden.