grillmoebel
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26 Oct 2016
I don't know if you want me in your living room... but just in case

Wenn Bands von der Jedesmal-hin-Liste aufgrund eines Hypes teurer und teurer werden, gibt es 2 Möglichkeiten: Der Hype zerstört die Integrität und das Magische, also das, weswegen die jeweilige Band auf der Jedesmal-hin-Liste steht (in diesem Fall spart man Geld und 40 Euro sind immerhin etwa 3,6 kg Kalamata-Oliven auf dem richtigen Markt) oder aber die Bands schaffen es, riesiger Konzertstätten und zahlungskräftigerem Publikum zum Trotz, sich ebenjenes zu bewahren (in diesem Fall bleibt man arm und olivenlos, aber kommt zu echter Musik, einem wahren Schatz in dieser unserer Zeit). Da wir uns bereits inmitten einer Grillmöbel-Panegyrik befinden, muss es um eine Begegnung der zweiten Art gehen, die da wäre Seasick Steve im Postbahnhof Club Berlin.
Pardon, ich meine natürlich im PBHFCLB BLN.
S ND JTZT WTR M TXT. Tja. Ganz schön nervig auf Dauer, dieses Vokaleauslassen.
Vokaleauslassen tut Seasick Steve noch nicht (Überleitung des Jahrtausends), trotz seines biblischen Alters (75/76) klappt das Reden noch hervorragend, weshalb er es in gleicher Quantität tut wie zu singen. Doch von vorne.
Um vom BHNHF in den CLB zu gelangen, muss man auf dem Mediaspree-Streifen an etwas vorbei, das Spreewiesn heißt und das meint, dass da Leute zu gesampleter Ballermannmusik deutschtümelnd umherfallen. Ich bin mir sicher, den Textausschnitt „Erwin fasst der Heidi von hinten an die Schultern, ja das macht Spaß, ja da kommt Freude auf“, gefolgt von „ein Prosit, ein Pro-ho-sit der Gemü-hüt-lichkeit“, vorgetragen mit der Inbrunst einer Nationalhymne, gehört zu haben. Dabei ist es erwartungsgemäß schwierig, in Stimmung für authentischen Hobo-Blues zu kommen. Abhilfe schafft die (im Gegensatz zu den deutschen Grölpfosten) angekündigte Vorband, die ein bisschen (nicht genug) blackkeyshaft zu zweit Lo-Fi-Kram von sich geben, den zu hören ich vielleicht nicht von Berlinchen angereist wäre, der aber wettgemacht wird durch ein sehr sympathisches und gefühlvolles Auftreten.
In der Pause läuft ein halbes Tom Waits-Album („Rain Dogs“), als hätte jemand meine geheimsten Wünsche erraten, und pünktlich nach der Grölballade „Anywhere I lay my head“ betritt der alte Mann (Seasick Steve, nicht Tom Waits) die Bühne und erzählt natürlich erstmal was:

„I haven‘t read the news for 5 or 6 years now, but even I know… who Donald Trump is. And I even know who Hillary Clinton is. (Lange Pause) And I think, if that‘s the best America has to offer, … we have a big problem.“

Seasick Steve, der von sich selbst danach erzählt, dass er sich nicht mehr daran erinnern kann, wann er zuletzt an Politik interessiert war, ist somit, wenn das auch plump scheint, m.E. weiter als die RiotGrrl-Combo Le Tigre. Er bleibt außerdem beim Thema, denn mittlerweile ist ihm eingefallen, wann das war, nämlich als JFK ins Amt gewählt wurde und die Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King Jr. gerade sehr stark war.

„It was the first time that I thought that something was really gonna change. When I heard that Kennedy was shot and later King was shot,it felt as if someone had punched me there… and politics went out here.

Ich zitiere das aus zwei Gründen, zum Einen finde ich es meist wertvoller, wenn Leute diese Zeit tatsächlich erlebt haben und etwas darüber erzählen, als wenn ich selbst mit anderen Millennials darüber wild spekuliere, zum Anderen ist das vielleicht keine wahnsinnig radikale politische Äußerung, aber eine ehrliche und legitime, wie ich finde. Ähnlich berührend war dann der erste (akustische) Song, der treffend analysierte, dass „die Guten“ dazu verdammt sind, jung zu sterben (nämlich weil sie von Rassisten usw. erschossen werden).
Seasick Steve bleibt ganz im Thema und fährt (nun endlich mit dem auf der Bühne ausschließlich trottend sich fortbewegenden Ausnahmeschlagzeuger Dan Magnusson) fort mit einem neuen Song, den er fast schon rappt, was bekanntlich sehr lustig ist (also alte Leute und Hip Hop, vgl. rappin Grandma). Als Einleitungsgeschichte erinnert er an den Panama Papers-Skandal, zeitgleich zu welchem das Auto des Schlagzeugers gepfändet worden sei wegen nicht ganz korrekter Angaben auf der Steuererklärung.

„So these two things happen simultaneously: CEOs, politicians and even political leaders hide away billions of dollars, and Dan here fills out a tax form incorrectly and they take his volvo. I think there‘s something not right about that.“

Verdammt, das ist doch klasse, denke ich mir im extrem depolitisierten Publikum als Boje der Vernunft treibend, und wenn eine tatsächliche Wut auf das Establishment durch die zart überlegene Hobo-Ironie nur wenig spürbar ist, ändert sich das spätestens während „Hell“, da sollen die nämlich alle hin, hofft er.
Es folgen viele neue und ein paar alte Hits, viele davon auf 10 Minuten in die Länge gezogen, was Seasick Steve hauptsächlich durch völligen Blödsinn gelingt, der nicht einmal besonders durchchoreografiert wirkt (erkennbar am verwirrten und hochkonzentrierten Gesicht des Drummers).
Höhepunkte:
1) Seasick Steve spielt auf einem bizarren aus Autoteilen hergestellten Instrument und bricht nach wenigen Takten ab mit dem Verweis, auf diesem Instrument heute nicht spielen zu können. Sofort kommt jemand und bringt ihm ein noch bizarreres aus anderen Autoteilen hergestelltes Instrument. Die Maßnahme bringt den gewünschten Erfolg.
2) Nachdem er 5 Minuten lang möglichst dissonante unangenehme Töne auf einem seiner Witzinstrumente dahersoliert und danach mit Dan Magnusson in einer Art finalem Kampf um den hässlichsten Schluss gewetteifert hat, kommentiert Seasick Steve großartig: „It‘s a tough job, but someone‘s gotta do it.“ Was bezweifelt werden darf.
3) Seasick Steve singt mit laszivem Duktus Textzeilen wie „Take all your clothes off…especially your socks “ und „Then you gotta put yourself in a bathtub…“. Tatsächlich ist der Text eine Anleitung, wie zu verfahren ist, wenn Sandflöhe die Beine befallen. SS genießt sichtlich die Doppeldeutigkeit*.
4) Seasick Steve erzählt minutiös, wie das Meisterwerk, das da wäre seine erste Website, entstanden ist, die hauptsächlich bestand aus einem Bild seiner selbst, das an einem Seil hängt und um sich selbst rotiert, mit vielen bunten Lichtern und anderem 90er-Computerdesign, etwa vergleichbar damit. Wieso es mittlerweile dann doch entfernt wurde, verrät er nicht.

Nicht nur einmal führt mir Seasick Steve meine eigenen vorschnellen Urteile vor, so zB, als er ankündigt, den Titeltrack seines aktuellen Albums mit der Vorband zusammen spielen zu wollen. Daraufhin erscheint nur der Gitarrist auf der Bühne und darf 3 Minuten lang nur Begleitung spielen, was ich doof finde, doch gerade als ich mich auf meiner Enttäuschung ausruhe, kommt tatsächlich der zweite Schlagzeuger dazu, das Lied wird auf gefühlte Stunden ausgedehnt und der bisher nur begleitende Gitarrist stürzt sich in ein wirklich tolles, stimmungsvolles Schlusssolo, dass bestimmt nicht nur einen (aber mindestens einen) Fan zum Weinen anregt.

Seasick Steve sollte sich definitiv die Unsitte abgewöhnen, in einem typischen Duktus männlicher Überlegenheit („I forgot something“, ernsthaft!) eine Frau auf die Bühne zu holen, die ihn bei dem Liebeslied „Walking man“ öfffentlich anschmachten darf und dafür eine signierte Platte erhält, das ist fast schon verstörend. Ich verzeihe es trotz seines großartigen Bewerbens dieser Platte („This on the front is a picture of me. On the back, there‘s the exact same picture.“) nicht, aber werde ihn weiter mit meinen finanziellen Mitteln unterstützen, solange mir keine kleinkriminellere Lösung einfällt, denn zusammengefasst war dieses Konzert, als ob man Helge Schneider in zwei Leute mit Südstaatenakzent aufgeteilt hätte. Jederzeit wieder, und die Zeit läuft ab! Weil er alt ist; Seasick Steve ist alt.


*berechtigte Frage: Müsste ich, weil Seasick Steve nunmal die Initialen SS hat, aus antideutschen Gründen nun immer “Seasick Zteve” schreiben?

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