grillmoebel
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11 May 2016
ghostwriters in the sky

Ich renne mit einem 7/8-taktigen Wurm im Ohr und einem Buch namens „Der Popanz“ in der Hand weintrunken durch die Stadt, vorbei an einem Plakat, das mich fragt: „Kennst du das, wenn Aufgeben keine Alternative ist?“ (Werbung für Blutkrebs, also nicht für die Krankheit, sondern für Awareness oder so) und denke mir, dass doch Aufgeben auch gerade da sehr wohl eine Alternative ist und eigentlich nun wirklich IMMER, aber sowas darf man ja nicht denken, denn das ist ja makaber und zynisch. Tja. Der Weg wird blockiert von Möchtegern-Tattoo-Models, die sich über die Bedeutsamkeit ihrer Tätowierungen unterhalten; der Gipfel der Langeweile und das in einer so hippen Gegend. Ich fahre schwarz (ja, ich fahre schwarz) mit der Eisenbahn und denke an das Buch „Geisterzug in den Tod“ von Jürg Altwegg; auch da geht es um Züge und wie entschlossene Menschen, die nicht aufgeben, es am Ende schaffen. Nämlich die Deutschen, die mit unglaublicher strategischer Brillanz es erreichen, in den letzten Kriegsmonaten einen Deportationszug durch das bereits in der libération begriffenen Frankreich zu steuern, allen Angriffen und Hindernissen zum Trotz. Die haben nicht aufgegeben. Ein Paar von den wie Ungeziefer behandelten Insassen des Zuges zum Glück auch nicht, aber will man es den zuhauf beschriebenen restlichen Menschen denn vorwerfen, dass sie angesichts quälenden Dauerdurstes, Bombenbeschuss, Platz- und Schlafmangel, Parasitenbefall und Wahnsinn, dann doch irgendwann mal „aufgegeben“ haben? Ist das überhaupt noch aufgeben zu nennen, was in jenen Situationen geboten ist? Ich denke nicht, und das Bizarre an der Beschäftigung mit den Überlebenden des Holocaust ist ja immer, dass es so wirkt, als gebe es eine Fülle von Berichten und Zeitzeugenaussagen voller Spannung und glücklicher Zufälle und Solidarität. Doch nur wer lebt, kann schreiben und auf jeden dieser Berichte kommen so viele Zehntausend Ungeschriebene, Menschen, die auf Todesmärsche geschickt oder mit der Erde mitverbrannt wurden, die in einer Art letztem Panikmassaker von der SS kurz vor der Befreiung niedergemäht wurden, die gestorben sind, weil sie nach der Befreiung zu schnell festes Essen zu sich genommen haben, die Jahre später an den Folgen der brutalen medizinischen Experimente zugrunde gegangen sind. Von denen schreibt keiner mehr was und deshalb ist auf Zerrbilder zu achten, wie sie die vielen unglaublichen Überlebensgeschichten leicht hervorrufen können und natürlich auch sollen, das macht die Aufarbeitung leichter. Wie sehr verhunzt diese wohl auch in Frankreich stattgefunden hat, bitte nachlesen bei o.g. Autor.

ias kommt dir in den Kopf, wenn du vom 30-jährigen Krieg hörst? Von all den Scharmützeln dazwischen, bis vielleicht sogar hin zum ersten Weltkrieg? Allenfalls ein verschwommenes Bild von etwas, das lange Zeit zurückliegt und mit dem Jetzt dann doch irgendwie wenig zu tun zu haben scheint, obgleich es natürlich ALLES damit zu tun hat. Ob tatsächlich auch der wahrscheinlich „populärste“ aller Genozide bald so verschwommen sein wird, wenn die Informanten erster Hand weg sind?
Warum nicht? Es ist schon oft so gekommen, unabhängig von dem Maß an Grausamkeit. Vielleicht bergen die neuen Möglichkeiten der Informationsverarbeitung ausnahmsweise eine Chance, das Vergessen zu verhindern oder hinauszuzögern.
Die Zeit rennt schneller jedes Jahr, Tausende Jahre Elend und kein Ende in Sicht. Und als würde das nicht genügen, kommen dann diejenigen, die leugnen und verdrehen und vergessen, obwohl alle wissen, was passiert ist, ungeachtet der Unvorstellbarkeit vieler Aspekte. Was ist zu tun? Hohe Philosophie braucht es dafür nicht und aufgeben ist - haha! - hier nun erstmals tatsächlich keine Alternative. Never forget.

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