grillmoebel
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05 Jan 2016
Die Zugabe muss heute abend ohne mich erklatscht werden - Lemmy R.I.P. 3

Weshalb schon wieder ein Lemmy-Post? Weil eine Quadrologie versprochen wurde? Um einen Diskurs mitzugestalten? Pfff. Seit ich mal VanderLubbe gelesen habe, habe ich mir vorgenommen, einem sehr stark in mir brodelnden Drang zu folgen, wenn möglich, und der Drang verlangt, noch einmal Gegenpopkultur im Falschen zu betreiben und einige Dinge zu notieren, die ich mir im Laufe langer Fanjahre angesammelt habe. Somit, in einer Mischung aus Apologetik und Panegyrik, bleibt festzustellen, man muss nicht alles mögen, was eine Band so herausbringt, das trifft auch bei mir zu. Andererseits lohnt es sich wirklich, gerade bei den unpopulären Alben und Songs vielleicht noch einmal genauer hinzuhören und dann fallen einem plötzlich Dinge auf, die in das immer wieder von Fans und Antifans (nicht verwechseln mit Antifas) beschworene Bild von Motörhead als einer Band, die immer das selbe macht, als ob das verwerflich wäre, diese Idioten, nicht hineinpasst. Freilich ist unklar, inwiefern solche Ausreißer dem harten Kalkül der Kulturindustrie zu verdanken sind, denn die bestimmt ja letztlich, was wir an Angebot haben und in welchem Rahmen Musik geschieht. Ich will hier nur kurz noch einmal betonen, dass jeder Ansatz, der dem Einzelnen in dieser Gesellschaft Selbstbestimmung zuschreibt, nicht anderes ist als eine glatte Lüge; wir können vielleicht an gewissen Punkten eine Auswahl treffen, in welchem vorgegebenen Bereich wir letztlich auf vorgegebene Art und Weise ein vorgegebenes Ziel erreichen, woran natürlich nichts Selbstbestimmtes ist. Auch so etwas wie Marktlücken, Innovation, Nischen, Start-Ups sind nur elaborierte Variablen in diesem Spiel, das jederzeit den Regeln zu folgen hat. Ich bin jetzt fertig mit betonen. Das alles gilt selbstverständlich auch für Motörhead, die durchaus Mainstream-Erfolg hatten und haben. Das Schöne ist aber, dass das, was letztendlich bei mir im Ohr ankommt, in mir dennoch alles mögliche auslösen kann und zumindest in eine Richtung somit eine offene Wirkung vorhanden ist. Die herrschenden Hegemonien versuchen diesem Ärgernis Kanonisierung, Reviews, Charts und andere systemische Strukturen entgegenzusetzen, also zu sagen, welche Teile des Gesamtwerks maßgebend sind, außerdem was gut und schlecht ist, als könnte das irgendwer sagen außer der Person, die es hört. So ein Theater – für nichts! Ein Wort: Geschmackssache. Ich muss nicht, aber klar kann ich gut finden, was Status Quo in den 80ern gemacht haben (schreckliches Beispiel), die Beatles können mir egal sein, ich muss keinen mystischen Respekt vor den Doors haben, ob ich sie nun höre oder nicht und selbst Bob Dylan kann mir am Arsch vorbeigehen (dass ers den wenigsten tut, spricht einerseits für ihn, aber auch für den Erfolg der systemischen Maßnahmen).
Um zum Thema zurückzukommen, 5 Motörhead-Songs außerhalb jeglicher Kanonisierung, die sich lohnen: Listen to your heart (Overnight sensation), The Thousand Names of God (Motörizer), Joy of Labour (Snakebite Love), Make ‘em blind (Sacrifice), Name in Vain (March ör die). Unterschätzte Alben: Another perfect day (1983), March ör die (1992), Hammered (2002). Es gibt eine zweistellige Anzahl von Songs, die ein Bass-Solo enthalten. Lemmy Kilmister beherrscht polyphones Singen hervorragend. Es gibt wiederkehrende Muster über Jahrzehnte wie zB Songs, in denen die Gesangsstimme „böse“ klingt (Orgasmatron, Brotherhood of Man, Assassin, Choking on your screams etc.), textlich starke Balladen (God was never on your side, Dust and glass etc) und völlige Ausreißer, die polarisieren (Whorehouse Blues, 1916, Wake the Dead, Kingdom of the worm etc). Es gibt eine zweistellige Anzahl von blasphemischen Songs. Suche all diese Dinge bei anderen Mainstream-Hard’n’Heavy-Bands und das Phänomen Motörhead/Lemmy wird plausibler.
Die Mitwirkung bei dem großartigen Film „Eat the rich“, die Vorliebe für Cartoons und Videospiele auch noch mit 70+, die Bereitschaft, jeden Blödsinn mitzumachen, von deutschen Talkshows bis zu Spongebob Squarepants –The Movie, und nicht zuletzt das hier, das ist alles bekannt, generiert aber auch Sympathie. Was noch? Einer der Songs macht sich über Jugendsprache lustig, siehe hier, wenn man Lemmy mal „Chill out“ und ähnliche Aussprüche verballhornen hören will. Take the Blame von Sacrifice hat ein extrem albernes Orgel-Solo. Lemmy spielte auch bei The Head Cat und nennt, wenn man das konsequent zu Ende denkt, somit dies Rock’n’Roll, sowie er jenes Rock’n’Roll nennt – Respekt! Lemmy versang sich regelmäßig bei Konzerten und betonte stets seine fehlende Professionalität, auch nach 40 Jahren Erfahrung. Schließlich: er mochte die Rolling Stones nicht besonders und ließ kaum eine Gelegenheit aus, das nach außen zu tragen, trotzdem auf der letzten Veröffentlichung (2015) ein Rolling Stones-Cover, das zu sagen scheint: Lemmy kann es besser und übernimmt sogar die Hintergrundshouts, die mit dieser Stimme zweistimmig aufgenommen einfach nur zutiefst absonderlich klingen – gut so! Wer wird sowas in Zukunft übernehmen? Einfach mal mir egal sagen und dem inneren VanderLubbe-Drang nachgeben? Axl Rose? Rea Garvey? Kim Kardashian, wer auch immer das ist? Wer von denen wird mit einem fortgeschrittenen aggressiven Hirntumor auf die Bühne gehen und komplette Konzerte spielen, auch wenn schon die Sprache versagt? Unmöglich, dass er das nicht gemerkt hat. Traurig, sowas zu sehen, aber auch beeindruckend. Wahrscheinlich hatte er selbst auf der Party zu seinem 70. Geburtstag noch Spaß, Tumor hin und her.
Wenn Lemmy recht hat, gibt es weder einen Sinn des Lebens noch ein Leben nach dem Tod. Lemmy hat offensichtlich recht und das bedeutet, dass es nur möglich ist, durch das Berühren anderer Menschen, durch emotionale Impulse weiterzuleben bzw. etwas wirklich wichtiges zu bewirken. Das ist hier passiert, wie nun klar sein dürfte und da ich ja selbst entscheiden kann, was ich mir von der ganzen Sache mitnehme, wird es etwas in dieser Gesellschaft extrem unterrepräsentiertes sein, nämlich die kompromisslose Ablehnung jeglicher Hierarchien und Vorschriften, von Gott und dem Staat. Auch noch mit Hirntumor.

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