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31 Oct 2015
Fiktives Frischeltern-Journal VIII - Musik

8: Musik


“Die gleiche Macht der Verdinglichung, die die Musik als Kunst konstituierte und die nie in bloße Unmittelbarkeit sich rückverwandeln ließe, wollte man nicht die Kunst auf ein vor-arbeitsteiliges Stadium zurückverweisen - die gleiche Macht der Verdinglichung hat heute den Menschen die Musik genommen und ihnen bloß deren Schein gelassen; die Musik aber, soweit sie sich nicht dem Gebot der Warenproduktion unterwirft, ihres gesellschaftlichen Haftes beraubt in den luftleeren Raum verbannt und ihre Gehalte ausgehöhlt.”, sagt Adorno und kein Mensch versteht, was er damit meint. Dennoch will ich daran anschließen in meinem heutigen Text, denn natürlich hat er Recht damit, natürlich ist die Hypostasierung der Musik als etwas der Kategorie „Kunst“ gehöriges der Grund dafür, dass das, was jede Musik im Grunde beschreibt, nämlich einen vertonten Moment der Wirklichkeit, der heutigen musikalischen Praxis, die irgendwo zwischen Musikvideo und Promo-Tour umherirrt, den Gesetzen der Reklame blind folgend, vollständig abgeht. Diese Erkenntnis wirft allerdings auch eine essentielle Frage auf: Was hat das mit dem Baby zu tun? Ich antworte für Adorno: Da ein Baby an Vereinnahmung wohl kaum zu überbieten ist und man aber ja keineswegs ein total anderer Mensch als vorher ist, kollidiert vieles, zB die Besessenheit für das Kind und die Besessenheit für Musik, die natürlich immer noch da ist und kultiviert werden möchte. Der Verein dieser konkreten Obsessionen kulminiert in der Frage des Kinderliedes, die mich seit langer Zeit beschäftigt. Klar war von Anfang an, dass traditionelle Kinderlieder für mich tabu bleiben müssen, eben weil sie traditionell sind, doch was tun? Das kindliche Gehör gehört doch geschult, schließlich soll das Kind ja in spätestens drei Jahren auch sowas erreicht haben, und wenn die von der Kulturindustrie im Verein mit der Reaktion vorgegebenen Musterstücke nunmal nicht infrage kommen, ist Kreativität erforderlich. Oder doch nicht: auch möglich (und um vieles einfacher) ist es, die beschränkten kognitiven Fähigkeiten des Babys auszunutzen und einfach etwas zu singen, was es nicht versteht (im Moment bei 3 Monaten ist die Auswahl groß). So einfach ist das!
Und so war das erste Lied, das ich jemals einem Säugling vorgesungen habe, eins über Zwangsprostitution, etwas unglücklich, zugegeben, aber das war wenigstens nicht mein Kind. Dieses mag besonders kindgerechte Lieder wie „Home for a rest“, ein Lied über Alkoholexzesse, „The Band played waltzing Matilda“, ein Lied über, äh, Krieg und Verstümmelung, „Asylum Choir“ von Motörhead (da geht es um schwere psychische Krankheiten), „Hung my head“ von Sting (Typ tötet versehentlich jemanden und wird dann hingerichtet), „Mercy Seat“ von Nick Cave (Typ in der Todeszelle) „Hurt“ von Nine Inch Nails (ihr kennt es) und „Dirt in the ground“ von Tom Waits. Hm. Mir scheint, es ist damit auf einem guten Weg in diese Welt.

Jetzt habe ich mir aber dramaturgisch geschickt das Lied aufgehoben, dass das Baby am liebsten mag und das ist in eine andere Richtung eine gute Nachricht, es handelt sich nämlich um „The day the nazi died“ von Chumbawumba (der Name ist auch sehr babygerecht, das zeigt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin).
Ansonsten dachte ich mir eigentlich, dass ich ja einfach jeden Blues singen könnte, den es gibt, heißt es doch ohnehin überall nur „Me and my baby“, „My baby’s gone“, „Howlin’ for my baby“, „I’m going home (to see my baby)“, „Baby, I can’t ever leave you, baby“ usw, alles sehr alltagsbezogene Lyrics zurzeit, doch zu oft kommt dann irgendwann sowas wie „Baby, I wanna make love to you“ und das macht den Witz kaputt und ist wahrscheinlich in so einer Situation zu singen illegal. Egal. Jedenfalls klappt das mit dem Blues also doch nicht, aber das ist auch nicht so schlimm, denn manchmal will das Baby tatsächlich auch etwas neues, originelles, am Besten mit Pupsgeräuschen drin und einer möglichst blöden Melodie, damit es was zu lachen hat. Ich verteidige von Natur aus kein musikalisches Akademikertum und so haben wir unseren Spaß mit dem Kack-Song, dem Lied über die verschiedenen Öle und dem Körperteil-Rap. Um Längen besser als alles, was ich jemals im Internet gefunden habe.



Nachtrag: Heute habe ich mit meiner spontanen Liedauswahl das Baby dreist belogen, als ich „I’m a man you don’t meet every day“ von den Pogues angestimmt habe. Falscher geht garnicht.

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