grillmoebel
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22 Jun 2015
Die Rute und Zurechtweisung sind das, was Weisheit gibt*

Es ist schon vorgekommen, dass ich auf Reisen gedacht habe, dass Deutschland ganz schön sein kann (natürlich ausschließlich landschaftlich betrachtet). Es ist ebenfalls schon geschehen, dass ich nette Erlebnisse hatte mit Menschen unterwegs, manchmal sogar mit Deutschen. Auf meiner heutigen Reise von Berlinchen nach Augsburg über Gerbersau reicht das Durchblättern eines Bahn-Magazins, um all diesen guten Gedanken den Garaus zu machen, wo so getan wird, als wäre das deutsche Fernsehen etwas, was zu retten ist (oder überhaupt irgendetwas anderes als ganz und gar scheußlich) und wo Deutschsein stets identisch ist mit schöner Landschaft oder rheinscher Frohnatur/Ulknudel. Niemals ein Indiz dafür, dass es eine Zeit gab, wo das nicht so war, nirgendwo ein Artikel, der auch nur vorgibt, an dieser Oberfläche jahrzehntelangen Revisionismus’ zu kratzen (war da nicht irgendwas mit Reichsbahn?), stattdessen: deutsche ß-Promis lassen sich von deutschen Reportern auf deutsch fragen, was sie an Deutschland so schön finden und wann sie wo in Deutschland mithilfe der deutschen Bahn unterwegs sind. Natürlich ist es im Grunde Zeitverschwendung, sich inhaltlich mit der mobil zu befassen, die ja sozusagen das DinA4-Pendant zu Flitzpiepen wie Steinbach, Schweiger und Naidoo (alle deutsch übrigens bzw. Reichsgau Danzig-Westpreußen) darstellt, dennoch hat sie genau wie diese Dummdeutschen eine Reichweite und in einem Land, wo bekanntlich nicht nachgedacht wird, sondern man denjenigen Gehorsam leistet, die die Informationen liefern, ist es einfach nicht gut, wenn die Impulsgeber nicht Ahrendt und Marx heißen, sondern Joko und Klaas. Und damit komme ich zum Thema dieser Predigt, nämlich nicht Deutschsein, sondern Dummsein. Das Problem ist, dass die Faktoren, die dazu führen, dass die Dinge sind, wie sie sind, nämlich scheiße, dass zwei Drittel der Menschheit von einem Drittel massiv ausgebeutet werden, dass auch in freiheitlichen Demokratien es nicht möglich ist, einen wirksamen Protest durchzuführen, dass bla Überwachung bla Umwelt, dass die Komplexität der zugrundeliegenden Faktoren und Zusammenhänge also die Fähigkeit verlangt, diese Zusammenhänge zu verstehen und zwar richtig. Da die Deutschen heute lieber an die magischen Kräfte von Küchenschneidebrettern glauben und seit jeher verkürztes Denken zu einer hehren Disziplin erhoben haben („Kauft deutsche Bananen!“), wundert es mich nicht, dass alles munter so weiterläuft mit dem ganzen Unrecht. Bakunin fordert, dass den Volksmassen die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft (Evolution etc) nahegebracht werden muss, damit sie endlich den Gott überwinden können, durch dessen Bild der Klerus sie unterdrückt. Das ist garnicht so falsch, dünkt mich, wenn ich mobil lese, Kapitalismus, Staat und Religion, ohnehin alles irgendwie verwurstelt, und damit man rausfindet, wie, ist eben ein Impuls außerhalb des mobil-Universums unerlässlich. Nur wie an das Thema herangehen? Leichte Sprache ist schön und gut und notwendig und natürlich würde ich gerne in einer Welt leben, wo klar ist, dass Wissenshierarchien keine anderen Hierarchien generieren und verschiedene Fähigkeiten etwas gutes sind. Aber es braucht auch einen kodierten Diskurs intellektueller Extravaganzen, denn ohne so etwas gäbe es großartige Sätze wie den hier von Bakunin nicht: „Die Barbaren waren tapfere Leute, […] erprobte Räuber, fähig, alles zu verwüsten und zu verschlingen, wie ihre Nachfolger, die heutigen Deutschen [=1871, Anm. Grillmöbel]; viel weniger systematisch und pedantisch in ihrem Räubertum als letztere, weniger moralisch, weniger gelehrt, aber dagegen viel unabhängiger und stolzer, fähig der Wissenschaft und der Freiheit nicht unfähig, wie die Bourgeois des modernen Deutschland.“ Das gilt heute noch genauso wie zu der Zeit, als es geschrieben wurde. Ich hoffe, in dieser Analyse schlüssig gezeigt zu haben, dass Reisen in Deutschland viel besser sein wird, sobald Deutschland der Vergangenheit angehört.


*(Spr. 17, 10, zitiert nach ‘Das Geheimnis des Familienglücks’, Traktat der Zeugen Jehovas, 1996,2012)

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