grillmoebel
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29 Aug 2014
Post für den Verfassungsschutz

Ausnahmsweise verhalte ich mich einmal blogkonform, indem ich mit diesem Eintrag auf etwas reagiere, was aktuell ist und auch noch Leute außer mir selbst interessiert. Möglicherweise Premiere für Grillmöbel, die “liebenswerte Internetfundgrube” (PC Welt). Die Rede ist von einem Brandanschlag auf die S-Bahn in Berlin durch - o Gott - Linksradikale. Ich selbst wohne ja nicht in Berlin, sondern in Berlinchen, wo es leider keine S-Bahn gibt, dennoch habe ich durch das große mediale Echo und natürlich, weil ich sehr viel Internetrecherche für meine Artikel betreibe, davon erfahren. Kurz zusammengefasst: Ein paar Menschen haben wasweißichwie die Ringbahn an einem wichtigen Knotenpunkt lahmgelegt, so dass einige Haltestellen über Tage nur von Ersatzbussen angefahren werden. In der Chronik der “Wir legen einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt Berlins das Ostkreuz lahm”-Feldzüge wäre dies nun Nr.4.
Das läuft dann immer so ab (Achtung! Behauptungen von mir sind subjektiv):
Zunächst ist S-Bahn-Chaos, was in Berlin, wo die Ringbahn nur bei 20° und Windstille planmäßig zu fahren scheint, nun wirklich keine Seltenheit. Das heißt, die wenigsten werden mit einem derart außergewöhnlichen Grund rechnen wie Brandstiftung, zumal die Bahn das meistens nicht sofort zugibt (“bla bla Stellwerkstörung” “bla bla Polizeieinsatz auf den Gleisen” “bla haben kurz nicht hingekuckt, da sind ja schon wieder zu viele Züge unterwegs” “bla bla Zugführer xy hat das Lenkrad herumgerissen und die Kurve zu scharf genommen”)
So weit, so üblich die Reaktionen. Leute sind gestresst, wütend auf die S-Bahn und einige fragen sich vielleicht, was da los ist. Also alles wie immer. Dann irgendwann: Brandstiftung! Erwartungsgemäß wird sich nun empört, dass es eine Art hat. Die Bahn hat in der Zwischenzeit auf den betroffenen Strecken Ersatzbusse eingesetzt, die Verwirrung ist groß, doch ist nicht gerade die Strecke Sonnenalle-Treptower Park betroffen, hält sich ein potenzieller Zeitverlust in Grenzen. Dann die große Überraschung: Es waren Linksradikale! Linksextreme gar! Manchmal auch Autonome, so dass die Leute, die den luziden Teil ihres Lebens in den 80ern und 90ern hatten, auch was fehlzuassoziieren haben. Zum Beweis gibt es dann immer ein schönes “Bekennerschreiben” (hier das aktuelle), in dem diese Linken erzählen, warum sie das gemacht haben. Es versteht sich von selbst, dass der Inhalt dieses Schreibens irrelevant für alle ist, die an dem darauffolgenden Diskurs teilnehmen, seien es Biedermänner oder Brandstifter. Das hat verschiedene Ursachen, über die ich hier aber nicht weiter mutmaßen möchte, denn ich bin Lebenskünstlerin und kein Sozialanalytiker. Und auch der in Zeitungen und indymedia-Kommentarspalten entstehende instant-Shitstorm ist zu ignorieren. Natürlich hat das Lahmlegen der S-Bahn zwischen Ost- und Südkreuz nichts mit den politischen Inhalten zu tun, die in der Bekenner_innenschreiben genannt werden. Natürlich erreicht die Aktion niemals Verantwortliche. Natürlich werden die betroffenen Menschen niemals plötzlich die Flüchtlingspolitik ihres Landes kritisch reflektieren. Natürlich werden sie auch nicht aus dem kapitalistischen Alltag gerissen. Natürlich würde eine solche Aktion dem Ansehen der Szene schaden, wenn sie denn eins hätte. Natürlich ist der Duktus des Textes, der auf mich leicht situationistisch wirkt, nicht zugänglich für diejenigen Leute, die dann an den Bahnhöfen stehen und sich aufregen. Natürlich kann und wird niemals etwas einer ernsthaften öffentlichen Debatte unterzogen werden, was auf linksunten.indymedia gepostet wird.
Dennoch ist die Aktion für mich mindestens ambivalent. Denn man darf natürlich auch nicht den Fehler machen, die Aktion unterbewusst nur deshalb zu verteufeln, weil sie illegal ist. Ich stelle mir nun kurz vor, in Berlin zu wohnen (denn in Wirklichkeit wohne ich woanders, siehe oben) und das Spektakel direkt mitzuerleben. Ich würde wohl auch zunächst auf 180 sein, weil die S-Bahn nicht fährt und die Ersatzbusse überfüllt und stickig sind. Würde ich dann von der Brandstiftung samt Bekenntnis erfahren, wäre das nicht mehr so einfach mit der Wut, würden doch plötzlich so viele Gedanken in meinem Kopf um Plausibilität wetteifern:
Naja, immerhin kostet es die Bahn sehr viel Geld,
naja aber den Leuten, die was zu sagen haben, ist das alles ohnehin egal,
naja, aber immerhin ist mal ein wenig Chaos,
naja, aber das Chaos wird nichts verändern,
naja, aber vielleicht lesen ein paar Normalos das Bekenner_innenschreiben und machen sich dann wirklich mal Gedanken,
naja, kann schon sein, aber ein paar reichen halt nicht,
Fazit: Naja.
Doch dann würde ich irgendwann das Statement des Konzernbevollmächtigten der Deutschen Bahn für Berlin, Ingulf Leuschel (irgendsoein Typ scheinbar, nie gehört), lesen, in dem er die Tat scharf kritisiert (Ach was! Und S-Bahn-Berlin.de-Presseabteilung: Ganz originelle Formulierung). Da heißt es nämlich, und das wirft nun wirklich ein ganz anderes Licht auf alles: „Dieser Anschlag trifft zuallerst unendlich viele Berliner und Brandenburger, denen auf diese Weise die Fahrt zur Arbeit, zur Schule, zum Ausbildungsplatz, erschwert wird.“
Leute, die sich seit Tagen darauf freuen, ein Konzert zu besuchen, mit Freunden essen zu gehen, die eine Party ansteuern, deren geliebte Menschen am anderen Ende der S-Bahn-Strecke warten, kurzum: diejenigen, deren Grund für die S-Bahn-Fahrt etwas Schönes, nicht staatsdienliches ist, trifft dieser Anschlag (eigentlich auch albern, von “Anschlag” zu sprechen, wenn man bedenkt, wozu dieses Wort sonst so verwendet wird), die trifft dieser Anschlag nicht zuallerst (was ist das überhaupt für ein Wort, sagen wir mal “zuallererst”), sondern wohl überhaupt nicht. Nachdem ich diese widerliche Äußerung gelesen hätte, wäre für mich als Fantasieberliner nun endgültig klar, wie diese Aktion zu bewerten ist. Denn wenn unendlich vielen (man stelle sich vor) Berlinern und Brandenburgern (also auch Arbeitskräfte von außerhalb, Gastarbeiter aus Brandenburg gar!) die Fahrt zu Arbeit, Schule, Ausbildungsplatz erschwert wird, kann das wirklich nur gut sein.
Zu ignorieren sind übrigens auch Berichte, die sich vermeintlich kritisch mit dem Thema befassen, da diese auch nur Offensichtliches aufzeigen (ein Beispiel). Ja, komisch, dass diese Linken einen Brandanschlag verüben und mit ihrer Begründung noch nicht mal alle überzeugen können!
Anders gedacht: Wäre es nicht vielleicht auch denkbar, dass es sich um eine Tat aus Verzweiflung handelt, in der Art, dass die Täter_innen in einem Staat und einer Gesellschaft leben, wo es absolut unmöglich gemacht wird, irgendeine Art von Kritik an oder Protest gegen das Bestehende zu üben, und dass ein Brandanschlag auf das Nahverkehrsnetz im Gegensatz zu so vielen anderen Dingen eben einfach jetzt gerade MÖGLICH ist?

Wer glaubt, die Antwort zu wissen, schreibe mir. Unter allen richtigen Einsendungen werden verlost: 100 Aktienanteile an einer noch zu gründenden Firma, Peters Unterbuxe und ein Pfund Soilent Green.

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