grillmoebel
Analytisches Prosa Nichtprosa Musiknerdtum Kommentare zum Zeitgeschehen wiederkehrende Rubriken Fragmente Meta Blogroll (alt)

11 Oct 2015
Fiktives Frischeltern-Journal VII - Außenwelt

7: Außenwelt

Was soll man da Einleitendes schreiben? Ist doch klar: Nach Monaten in der Wochenbettblase ist es mitunter erschreckend, was in der sogenannten „wirklichen Welt“ so los ist. Aber von vorne: Ich gehe (in einem fiktiven, aber der Wirklichkeit nahe kommenden Szenario), kein Gewicht am Bauch, das meine Haltung auf eine harte Probe stellt, auch kein Bündel quer über der Schulter, das langsam über den Tag verteilt schreckliche Schmerzen akkumuliert, man könnte fast sagen, dass überhaupt nirgends an mir ein Baby angebracht ist, ein eigenartiges Gefühl, aber so gehe ich die Straße entlang und sehe allerlei bizarre Dinge, die letztlich jedes bisschen Zweifel daran ausräumen, ob diese Welt und mich noch irgendetwas verbindet. Die Antwort auf diese Frage ist nunmehr also rhetorisch. Womit das alles angefangen hat, ist schwer zu sagen, aber wahrscheinlich bei der GMX Startseite irgendwo zwischen dem neuesten Video einer Tiermissgeburt und Lifestyle- Nonsens wie punkige Lederjacken, die aber nicht zu punkig sein dürfen für die Hipster, denen sie zum Trend gereichen sollen, ja, irgendwo zwischen der aktuellen Bildergalerie von Kim Kardashians Hintern, wer auch immer das sein mag, und den Adelsnachrichten („[Adelstitel weiblich][archaischer europäischer Vorname]: Schwangerschaftsstreifen! Was wird [Adelstitel männlich][archaischer europäischer Vorname] dazu sagen?“) ahja, es war dieser Artikel, der natürlich mittlerweile unverändert auf Web.de zu finden ist. Ich lese ihn und überlege kurz, ob ich in Panem bin, nein, es ist immer noch das bekackte Deutschland, schreit mir Mario Barth ins Ekelzentrum meines Gehirns hinein. Ich weiß, dass ich den Auswurf deutschen Fernsehens lange nicht verfolgt habe, wozu auch, aber es, ich kann es kaum fassen, empört (!) mich, WAS ZUM GEIER mittlerweile möglich geworden ist. Ich - muss es doch noch einmal sagen: Mario Barth - tut so – als ob – er kein lächerlicher Hofnarr der deutschen Kleinbürgerlichkeit – wäre – sondern – ein kritischer Geist – einer, der Widerstand leistet – Mario Barth! Was seine Freundin wohl dazu sagt?
Wie dem auch sei, Mario Barth ist definitiv keine weitere Grillmöbel-Zeile wert (das ist ein Versprechen!), aber da fragte ich mich zum ersten Mal, ob das wirklich die Welt ist, von der ich doch vor nicht allzulanger Zeit mal mehr mitgekriegt habe…
Ich gehe (nun aber wirklich) also babylos die Straße entlang und habe gerade auf GMX gelesen, dass Mario Barth neuerdings gegen die Ungerechtigkeiten der Regierung mobil macht und dass Angela Merkel sich als eine Art Messias der Flüchtlingaufnahme inszeniert und ihr das wirklich Leute abnehmen. Das Problem an der Straße nun ist, dass sie sich in Weimar befindet und dass dort gerade Zwiebelmarkt ist, das Volksfest mit Hunderttausenden von (betrunkenen) Teilnehmer_innen, wo man essen und trinken und Geld für Zwiebelarrangements ausgeben kann. Frag mich niemand, weshalb ich da bin, der Zwiebelmarkt jedenfalls ist sicherlich nicht der Grund, aber die Diskrepanz zwischen mir und der Welt könnte kaum größer sein als jetzt, wo ich hunderte von sehr männlichen und besoffenen Teenagern aus dem Weg schieben muss, um irgendwie von hier wegzukommen, weg von Ständen mit Schilden „Wir nehmen noch Deutschmark“, weg von balzendem Jungvolk, weg von dreigliedrigen Aufzählungen. Es gibt eine Schlagerbühne (sic!), einen Mittelaltermarkt-Teil, wo die Dinge Taler statt Euro kosten, hunderte von Ständen mit den gleichen Auslagen, den gleichen Preisen und den gleichen Menschenschlangen davor. Auf der Hauptbühne kommentiert ein ganz schlimmer Moderator den Stadtlauf. Einmal sagt er: „Vielleicht muss ich euch mal ein bisschen von meiner Stimme verschonen.“ Und 10 Sekunden später: „Aber der Lauf lässt das nicht zu.“ Schöne 10 Sekunden. In der Pause läuft auf der Bühne aus den Lautsprechern ein Lied mit dem Text „Ja da geht’s Humba Humba Humba Tätärä Tätärä Tätärä Da ruft der ganze Saal dasselbe noch einmal“ und dann wieder von vorne. Dann interviewt der Moderator den „König des Volkslaufes“ (ein Typ, der mit Nachnamen „König“ heißt) und dabei passiert etwas unerwartetes, nämlich eine Pointe, wie folgender Dialogausschnitt beweisen möge:

greulicher Moderator: „Du hast eine zehnjährige Tochter, die auch läuft. Wie hast du das gemacht, neben dem ganzen Trainieren auch noch ein Kind zu produzieren?“
König des Volkslaufes: „Äh, na, einmal im Jahr wird ja immer die Zeit eine Stunde zurückgestellt, naja, und dann hatte ich ja eine Stunde Zeit“

Hut ab vor den Schlagfertigen (denn ihnen gehört das Himmelreich), damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Nachdem ich auf dem Zwiebelmarkt nicht mehr gebraucht werde, fahre ich nach Hause zum Baby. Auf dem Weg in die Wohnung kommen mir zwei Leute entgegen, einer trägt eine Mütze mit dem Logo der Firma „Dildoking“. Ich weiß nicht, wie ich mir Menschen vorgestellt habe, die auf ihrer Kleidung Werbung für Sexspielzeug machen; so jedenfalls nicht. Was soll man da Abschließendes schreiben? Ist doch klar: Nach Monaten in der Wochenbettblase ist es mitunter erschreckend, was in der sogenannten „wirklichen Welt“ so los ist, zumal man ja ein Kind in ebendiese gesetzt hat, in diese Welt, die völlig von Sinnen zwischen Dildoking, Zwiebelmarkt und “Flüchtlingskrise” umherschwappt… Nach einem langen Tag beschließe ich: Diese Welt kriegt mich so schnell nicht wieder.

Analytisches Prosa Nichtprosa Musiknerdtum Kommentare zum Zeitgeschehen wiederkehrende Rubriken Fragmente Meta Blogroll (alt)